Aus einer Aparatur mit mehreren Spuhlen sprühen die Funken.© A. Die­köt­ter

Ge­wit­ter auf Knopf­druck

von viel.-Re­dak­ti­on

von Joa­chim Kläschen

Un­schein­ba­re Blech­kis­ten ste­hen in einem engen Raum in Reih und Glied, auf ihnen durch Kup­fer­dräh­te ver­bun­de­ne Ke­ra­mik­spin­deln, die Kohl­mor­gen mit­ein­an­der ver­bin­det. „Auch wenn wir sie bis­her noch nicht ganz aus­ge­reizt haben, soll un­se­re An­la­ge bis zu 400.000 Am­pere schaf­fen“, er­klärt Prof. Reth­mei­er. „Das ist mehr elek­tri­scher Strom als der stärks­te zu er­war­ten­de Blitz. Aber man­che Un­ter­neh­men wol­len ein­fach wis­sen, was ihre Ge­rä­te aus­hal­ten.“ So wie die Gäste aus Dä­ne­mark, die ihre drei Meter lan­gen und etwa fünf Kilo schwe­ren An­ten­nen mitt­ler­wei­le be­reit­ge­legt haben, damit Kohl­mor­gen die erste von ihnen auf der elek­tri­schen Schlacht­bank ein­span­nen kann. Der Auf­bau ist Hand­ar­beit. Holz­schei­te in ver­schie­de­nen Grö­ßen und Schraub­zwin­gen kom­men zum Ein­satz. Mit einem Maul­schlüs­sel be­fes­tigt der 50-Jäh­ri­ge ein di­ckes Kup­fer­band an der Spit­ze der An­ten­ne und schraubt die Fas­sung des Sen­de­mas­tes mit fin­ger­di­cken Schrau­ben an Kup­fer­plat­ten, damit der Strom spä­ter in und hof­fent­lich auch durch den Prüf­ling fah­ren kann.

Die Blitz­an­la­ge mutet ar­cha­isch an. Und wel­che Macht in ihr steckt, zeigt Prof. Reth­mei­er an­hand ihrer „Nar­ben“. Eine der Ke­ra­mik­spin­deln, die die ge­fähr­li­che Hoch­span­nung aus dem In­ne­ren des Sto­ß­kon­den­sa­tors füh­ren, ist nur noch zu Tei­len in­takt, die feh­len­de Hälf­te einem Ex­pe­ri­ment ge­schul­det. Der 42-Jäh­ri­ge deu­tet mit dem Fin­ger auf die Wand und einen Ka­bel­schrank. Bei ge­nau­em Hin­se­hen sind Ein­schlag­stel­len zu er­ken­nen; Kra­ter, ver­ur­sacht durch die ab­ge­spreng­ten Ke­ra­mik­trüm­mer. Auch mit künst­lich er­zeug­ten Na­tur­ge­wal­ten ist nicht zu spa­ßen. Daher fin­den alle Blitz­ex­pe­ri­men­te hin­ter zen­ti­me­ter­di­cken Glas­schei­ben und Si­cher­heits­tü­ren statt.

Der Auf­bau ist fer­tig und die An­la­ge wird hoch­ge­fah­ren. Eine Si­gnal­leuch­te zeigt, dass etwas im Gange ist. Schwer zu glau­ben, aber der Blitz­strom, der gleich durch die An­ten­ne schie­ßen soll, kommt aus einer üb­li­chen Steck­do­se. Über zwan­zig Se­kun­den lässt Kohl­mor­gen den Strom lau­fen, als füll­te er eine Ba­de­wan­ne. Die Kon­den­sa­to­ren spei­chern die elek­tri­sche La­dung, deren Höhe auf zwei gel­ben Am­pere­me­tern kon­ti­nu­ier­lich steigt. Damit der Knall der Ent­la­dung die Trom­mel­fel­le der Zu­schau­er nicht schä­digt, gibt Prof. Reth­mei­er Ge­hör­schutz aus. Kohl­mor­gen bellt ein letz­tes „Ach­tung!“ und löst per Maus­klick die Ent­la­dung aus. Ein Blitz. Ein Knall. Stil­le.

Kon­zen­triert be­trach­tet Prof. Reth­mei­er die Kurve auf dem Os­zil­lo­skop, wäh­rend Kohl­mor­gen ziel­stre­big in das Labor eilt, um zu mes­sen, ob die An­ten­ne Scha­den ge­nom­men hat. Eile ist ge­bo­ten, denn der Ver­such soll drei­mal bin­nen zehn Mi­nu­ten wie­der­holt wer­den, so, als schlü­ge der Blitz mehr­fach nach­ein­an­der in die An­ten­ne ein. Ge­las­sen war­ten die Pro­com-Mit­ar­bei­ter das Er­geb­nis ab. Es ist nicht ihr ers­ter Be­such im Blitz­la­bor und die erste Runde be­deu­tet für sie al­len­falls ein Warm­lau­fen. Prof. Reth­mei­er über­brückt die Zeit bis zum zwei­ten An­lauf, indem er ein kur­zes Video von einem ver­gan­ge­nen Test­lauf vor­führt: In der Ne­ben­kam­mer prüf­ten der Pro­fes­sor und sein Team das „Ver­hal­ten“ der Blit­ze, also wo ein Blitz in einen Prüf­ling ein­schla­gen würde. Häu­fig sind es Ro­tor­blät­ter von Wind­kraft­an­la­gen, die in der Ne­ben­hal­le der künst­li­chen Na­tur­ge­walt aus­ge­setzt wer­den. Im Video scheint alles nach Plan zu ver­lau­fen. Der Blitz schlägt genau an der Stel­le in das Blatt, die dafür vor­ge­se­hen ist und die En­er­gie in die Erde ab­lei­ten soll.

Was die elek­tri­sche En­er­gie an­rich­ten kann, zeigt Prof. Reth­mei­er auch Stu­die­ren­den un­ter­schied­li­cher Fach­be­rei­che unter an­de­rem re­gel­mä­ßig in den In­ter­dis­zi­pli­nä­ren Wo­chen der Hoch­schu­le. Auf einem Tisch im Blitz­la­bor lie­gen ei­ni­ge Er­geb­nis­se: Ful­gu­ri­te, röh­ren­för­mi­ge Ge­bil­de, die ent­ste­hen, wenn ein Blitz in Sand ein­schlägt. Unter Prof. Reth­mei­ers An­lei­tung ver­gra­ben die Stu­die­ren­den Kup­fer­ka­bel in einer Schüs­sel mit Quartz­sand und be­ob­ach­ten dann, wie der Blitz auf Knopf­druck mit bis zu 30.000 Grad Cel­si­us den Sand trans­for­miert. Seine Ar­beit mit prak­ti­schen Bei­spie­len zu ver­an­schau­li­chen, ist ihm eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit. So lässt er sie auch mit Bau­markt­ma­te­ria­li­en ein Stück Reet­dach nach­bau­en und in­stal­liert dar­auf einen va­ria­blen Blitz­ab­lei­ter. Die Stu­die­ren­den ler­nen so, dass die­ser einen be­stimm­ten Ab­stand vom Ob­jekt haben muss, das er schüt­zen soll. Nur dann fährt die En­er­gie nicht in das leicht ent­flamm­ba­re Reet.

Sein Ta­lent für ver­ständ­li­ches Er­klä­ren hat den Blitz­ex­per­ten an die FH Kiel ge­bracht. „Schon in der Schu­le habe ich ge­merkt, dass viele mei­ner Mit­schü­le­rin­nen und Mit­schü­ler in Mathe und Phy­sik nicht mit­ge­kom­men sind, weil ein­fach schlecht ver­mit­telt wurde. Ich hab mir mein Ta­schen­geld mit Nach­hil­fe auf­ge­bes­sert, weil ich immer gut er­klä­ren konn­te. Sogar Kla­vier­un­ter­richt habe ich ge­ge­ben“, er­in­nert sich Prof. Reth­mei­er, des­sen Herz aber auch für Schlag­zeug, Gi­tar­re und Cello schlägt. „Wäh­rend mei­nes Elek­tro­tech­nik-Stu­di­ums an der TU Ber­lin ist mir dann klar ge­wor­den, dass ich un­ter­rich­ten will. Und die prak­ti­sche Ar­beit mit den Stu­die­ren­den an der FH ist genau das, wo ich hin woll­te“, freut sich der Pro­fes­sor mit dem mar­kan­ten Bart sicht­lich.

Mitt­ler­wei­le hat Kohl­mor­gen den drit­ten Durch­gang auf­ge­baut. Längst ist Jen­sen auf der si­che­ren Seite, denn die An­ten­ne hat die Tests be­stan­den, die sie aus­hal­ten muss. Nun will er wis­sen, wo die Gren­ze liegt. In einem Se­kun­den­bruch­teil sol­len 200.000 Am­pere durch die An­ten­ne schie­ßen, in deren In­ne­ren sen­si­ble Mi­kro­elek­tro­nik ver­baut ist. „You are ab­so­lu­te­ly sure, you want us to do that? If we do that, I am not sure what hap­pens“, gibt Prof. Reth­mei­er zu be­den­ken. „Ab­so­lu­te­ly sure!“, ent­geg­net Jen­sen.

Bei so hohen Strö­men zeige sich auch die Kraft des Stroms, er­klärt Prof. Reth­mei­er. Des­halb greift Kohl­mor­gen zu Bohr­ma­schi­ne und zim­mert prag­ma­tisch aus den Holz­schei­ten eine pass­ge­naue Hal­te­rung. Schraub­zwin­gen hal­ten die Spit­ze des Sen­de­mas­tes auf zwei Ti­schen fi­xiert. Kohl­mor­gen schal­tet die Warn­lam­pe ein und fährt die An­la­ge hoch. Die gel­ben Am­pere­me­ter be­gin­nen zu zäh­len und wäh­rend des ge­spann­ten War­tens er­läu­tert Prof. Reth­mei­er: „Das ist jetzt der kri­ti­sche Be­reich. Die An­la­ge ist dafür theo­re­tisch aus­ge­legt, aber in die­ser Grö­ßen­ord­nung steigt auch das Ri­si­ko, dass es Aus­rei­ßer gibt.“ Alle set­zen ihren Ge­hör­schutz auf, Kohl­mor­gen bellt wie­der­um sein „Ach­tung!“ und einen blit­zen­den Knall spä­ter zeigt sich das zer­stö­re­ri­sche Er­geb­nis des Ex­pe­ri­ments.

Im Labor riecht es ver­brannt, das obere Ende der Glas­fa­ser-Um­man­te­lung der An­ten­ne ist zer­split­tert. Die me­cha­ni­sche Wucht des Strom­schlags hat die An­ten­ne aus den Zwin­gen ge­ris­sen und so den Scha­den ver­ur­sacht. Kohl­mor­gen be­ginnt um­ge­hend mit der Wi­der­stands­mes­sung und Jen­sen be­ginnt zu grin­sen, als er das Er­geb­nis auf der An­zei­ge des Mess­ge­räts sieht. Seine An­ten­ne funk­tio­niert, der Scha­den ist le­dig­lich ober­fläch­lich. „Un­se­re Kund­schaft aus der In­dus­trie schätzt es, dass wir so fle­xi­bel sind. Ihre In­ge­nieu­rin­nen und In­ge­nieu­re kön­nen uns im Zwei­fels­fall dabei hel­fen, Un­ge­reimt­hei­ten auf­zu­schlüs­seln, weil sie ihr Pro­dukt in- und aus­wen­dig ken­nen.“ Prof. Reth­mei­er indes schätzt die Rah­men­be­din­gun­gen, in­ner­halb derer er sol­che Auf­trä­ge be­ar­bei­tet. „Die For­schungs- und Ent­wick­lungs­zen­trum GmbH der FH hält uns den Rü­cken frei und nimmt uns viel von der Bü­ro­kra­tie ab. So kön­nen wir uns dann voll auf un­se­re Ar­beit für die Kun­din­nen und Kun­den kon­zen­trie­ren.“

Am Ende dient die Zu­sam­men­ar­beit mit der In­dus­trie aber auch der Lehre. Prof. Reth­mei­er rech­net vor, dass ihm für fünf Jahre etwa 20.000 Euro zur Ver­fü­gung ste­hen. „Das hört sich nach viel an. Aber einer un­se­rer Kon­den­sa­to­ren kos­tet 3.500 Euro! Wenn da etwas aus­fällt, müs­sen wir im­pro­vi­sie­ren.“ So küm­mert sich der Herr des Blitz­la­bors um Spen­den von Wirt­schafts­un­ter­neh­men, die tat­säch­lich be­reit sind, Ma­te­ri­al und Ge­rä­te zur Ver­fü­gung zu stel­len. Mit der Spit­ze sei­nes Si­cher­heits­schuhs tippt er gegen eine un­schein­ba­re blaue Plas­tik­ton­ne unter einem Tisch. Die darin ent­hal­te­nen 45 Kilo Kup­fer­ka­bel, die ein Un­ter­neh­men kos­ten­los an sein Labor ab­ge­ge­ben hat, ge­hö­ren zu den Ver­brauchs­stof­fen für das Blitz­la­bor. Wer blit­zen will, muss freund­lich sein.

© Fach­hoch­schu­le Kiel