Herausforderungen machen ihr Spaß: Franziska Anders trifft gerne Entscheidungen. Das war nicht immer so, doch nach zwölf Jahren bei der Bundeswehr und dem Studium der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Kiel, ist sie bestens gerüstet für ihre Aufgabe als Abteilungsleiterin „Netzwerk“ bei den Kappelner Werkstätten. „Ich wollte zur Bundeswehr, weil ich der Schule müde war“, erzählt Franziska Anders. Was sich im 12. Jahrgang ankündigte, wurde fünf Monate vor dem Abitur Gewissheit: Sie wollte einen anderen Weg einschlagen und wusste, dass der „nicht zu einem Job am Schreibtisch“ führen würde. Und obwohl außer ihrem Opa niemand aus ihrer Familie bei der Bundeswehr war, kam ihr diese in den Sinn. 2004 ging es los. „Ich bin in der Unteroffiziers-Laufbahn angefangen, und als Frau musste ich mich gleich verpflichten.“ Die heute 38-Jährige unterschrieb für zwölf Jahre. „Damit hatte ich die größten Perspektiven, und irgendwie war das Abenteuer so klar für mich, dass ich dachte, das ist auf jeden Fall das, was ich möchte.“ Sogar das Ziel „Berufssoldatin“ hatte sie vor Augen. Doch es kam anders.
Bei den Fallschirmjägern, einer der männlichsten Bundeswehrsparten, fing sie an. Damals gab es noch sehr wenige Frauen bei der Bundeswehr. Im Sanitätsdienst waren noch die meisten anzutreffen, doch als Truppendienst-Soldatin unterschied sie sich davon. „Ich habe Panzerfahren gelernt, bin Fallschirm gesprungen und über diverse persönliche Grenzen physisch und psychisch gegangen“, sagt Anders. Sie romantisiere rückblickend die Zeit, gibt sie zu. Auch ohne Verklärung bleibe, dass sie viel gelernt habe, über das, was sie leisten kann und möchte. „Was mich damals maßgeblich beeinflusst hat: Ich hatte im Laufe der Ausbildung schon Führungsverantwortung und habe gemerkt, dass die menschlichen Schicksale und die Bedürfnisse maßgeblich sind für den Erfolg von allem, was wir da machen.“ Sie lernte die Schattenseiten kennen: Alkohol- und spielsüchtige Kameraden, Trennungen und Scheidungen waren weit verbreitet. Diese Themen wurden totgeschwiegen. Wenn eine Trennung frisch war oder die Oma im Sterben lag, habe das Auswirkungen auf die Moral des Einzelnen und auch der Gruppe gehabt. „Das wurde nicht gesehen. Das durfte auch nicht gesehen werden, weil wir funktionieren mussten. Was ich von Seiten des Militärs auch verstehen kann“, so Anders. Die Erkenntnis reifte, dass der Beruf nicht der Richtige war. Zudem ging ihr Kinderwunsch für sie nicht mit dem Idealbild einer Soldatin einher.
Als die Zeit bei der Bundeswehr zu Ende ging, flammte ein zweiter großer Wunsch bei ihr wieder auf: das Studium der Sozialpädagogik. Durch die Bedürfnisse und Problemlagen, die sie bei der Bundeswehr kennengelernt hatte, fühlte sie sich bestärkt in ihrem Wunsch. Ihr Ziel: Sie wollte in die Erwachsenenbildung. Denn auch beim Militär hatte sie in der Ausbildung und Weiterbildung jahrelang Theorie und Praxis unterrichtet. „Ich habe mich in der Erwachsenenbildung unfassbar wohl gefühlt. Daher war klar: Soziale Arbeit, Bachelor, Master.“ Als großartig empfand Anders, sich wieder neues Wissen aneignen zu können. „Ich war wie ein ausgetrockneter Schwamm, der nur darauf wartete, benetzt zu werden.“ Sie genoss die große Herausforderung, als mittlerweile zweifache Mutter zu studieren – die FH Kiel unterstütze dabei ganz toll, beispielsweise durch die vielen Kurse am Vormittag. Zu Beginn tat sie sich schwer mit den ersten Soziologievorlesungen. „Ich konnte die Denke überhaupt nicht mittragen.“ Es habe ein wenig gedauert, bis sie eintauchen konnte. Sie kam aus einer beruflichen Männerwelt, war mit Gender-Themen nicht in Berührung gekommen und hatte nicht das Gefühl gehabt, benachteiligt gewesen zu sein. Doch dass ihr etwas gefehlt hatte, stellte sie fest, als sie in die neue Welt eintauchte: „Ich habe gemerkt, wie gut mir das getan hat.“ Rückblickend aus dem neuen Job heraus sagt Franziska Anders, dass sie am meisten von der Haltung profitiert habe, die vermittelt wurde. „Den Menschen so sein lassen in seinem Selbst und die Akzeptanz und die Unvoreingenommenheit und diese Liebe zu Menschen.“ Das habe sie so internalisiert, dass es ihr gar nicht mehr bewusst war. Aber das sei in ihrer heutigen Arbeit zu einem wichtigen Bestandteil geworden.
Vom Ziel, in der Erwachsenenbildung zu arbeiten, rückte sie ab. Der Unterricht mit Lehrplänen oder Unterrichtsplänen, die sich alle paar Wochen wieder ändern, in denen es keine Konstanz über ein Schuljahr gibt und viel am Nachmittag, viel am Abend stattfindet, passten nicht zu ihrem Lebensentwurf. Das Ziel war weg, die Richtung weiter klar. Sie war über Jahre bei der Bundeswehr in Führungsverantwortung hineingewachsen. Daher sollte es eine Leitungsfunktion sein und die Arbeit mit Erwachsenen. „Ich musste zwar immer wieder lernen, dass die zivile Welt nicht die Bundeswehr ist, aber ich breche das runter“, so Anders. Sie machte also zunächst die staatliche Anerkennung, um sich alle Möglichkeiten offen zu halten. „Ich bin ein Mensch, der gerne bestimmt“, sagt sie über sich. Das kommt ihr in ihrem jetzigen Job bei den Kappelner Werkstätten zugute. Sie bringt aber nicht nur den Mut mit, Entscheidungen zu treffen, sondern auch dazu zu stehen und die ihr unterstellten Menschen zu schützen. „Ich verstehe leiten so, dass ich meinen Mitarbeitenden eine Arbeitsumgebung schaffe, in der sie ihr größtmögliches Potenzial entfalten können“, erklärt Anders. So übernehme sie Verantwortung für das, was in ihrer Abteilung passiere. Die Bundeswehr sei eine gute Schule dafür gewesen.
In den Sankt Nicolaiheimen arbeitet Franziska Anders im Bereich der Werkstätten. Sie leitet das sogenannte Netzwerk. Dort arbeiten psychisch behinderte Menschen, beispielsweise aufgrund von Traumatisierungen oder Schizophrenie. „Die Arbeit dort macht mich jeden Tag glücklich“, sagt sie. Beworben hatte sie sich eigentlich um eine andere Stelle – die Bereichsleitung. „Eine utopisch hohe Leitungsposition, aber ich dachte, rein faktisch betrachtet, bin ich dafür qualifiziert.“ Als Berufsanfängerin frisch aus dem Studium passte die Position zwar nicht, aber der Geschäftsführer bot ihr die Abteilungsleitung in der Werkstatt für psychisch behinderte Menschen an. „Heute muss ich sagen, diese Stelle fühlt sich an, als wäre sie für mich gemacht.“
Nach etwa einem Jahr bei den Kappelner Werkstätten hat Franziska Anders noch einen unvoreingenommenen Blick, mit dem sie zur Arbeit geht. Sie hat neue Ideen eingebracht. Individualförderung sei ihr von Anfang an wichtig gewesen. „Das hat ganz viel Unruhe gebracht, aber mittlerweile merke ich, dass es Früchte trägt.“ Ihr ist es wichtig, alle zu kennen, jede Person zu sehen, auch die Stillen wahrzunehmen. In diesem Job hat sie gefunden, was sie gut kann: „Menschen“. Sie betritt den Raum und bemerkt, wo gerade etwas los ist oder wer etwas auf dem Herzen hat. „Ich habe die Möglichkeit und die Fähigkeit, auch die leisen Schwingungen wahrzunehmen.“ Das merken die Beschäftigten schnell. „Ich werde gesehen, geschätzt und ernstgenommen“, sagt Anders, die auch mal nicht so schöne Nachrichten verkünden muss, denn es gibt auch Produktionsdruck in der Einrichtung – pro Woche gilt es, vereinbarte Auftragsmenge an Industriekunden zu schicken.“ Fördern und Funktionieren müssen so Hand in Hand gehen.