Merle Siebrecht ist mit dem Meer aufgewachsen. Seit sie denken kann, verbringt Sie ihre Freizeit auf dem Wasser – surfend, kitend und segelnd. Heute, vier Jahre nach ihrem Bachelor-Abschluss im Fach Offshore-Anlagentechnik (ab 2022 Erneuerbare Offshor Energien), befasst sich die FH-Alumna auch beruflich mit der See. Für und mit ihrem Arbeitgeber arbeitet sie an der Entwicklung schwimmender Windräder. Geboren und aufgewachsen ist Merle Siebrecht in Eutin. „Der Weg zur nahgelegenen Ostsee war damals mein Pilgerpfad“, stellt sie fest. Sie nimmt alles mit, was das Wasser zu bieten hat: Surfen, Windsurfen, Segeln und Kiten. In ihrer Schulzeit arbeitet sie als Wassersportlehrerin. „Das kam mir naheliegend vor – meine beiden Eltern sind Lehrerin und Lehrer und so wollte ich auch in die Richtung gehen“. Doch es soll schließlich anders kommen.
Als sie nach dem Abitur ein halbes Jahr lang Neuseeland bereist, bringt sie auch dort Kindern und Jugendlichen bei, wie man sicher auf dem Brett steht. „Ich habe denn aber langsam gemerkt, dass das langfristig nichts für mich ist“, beschreibt sie ihre Umorientierung. Sie will studieren. Kiel soll es sein, „das war schon immer klar“. Noch von Neuseeland aus entscheidet sie sich für den Studiengang Offshore-Anlagentechnik (ab 2022 Erneuerbare Offshor Energien) an der FH Kiel. „Danach ging alles Schlag auf Schlag“. Sie bezieht gemeinsam mit einer Freundin eine Wohnung in Kiel. Party zu machen ist nicht ihr Ding. Sie schenkt ihre Aufmerksamkeit lieber dem Raceyard-Projekt der Hochschule. Dieses konstruiert, fertigt und vermarktet jedes Jahr einen Elektro-Rennwagen und nimmt damit an Wettbewerben teil. „Dafür habe ich gelebt“, sagt sie. Hier kann sie bereits theoretisch erlernte Inhalte praktisch anwenden.
Die IDWen nutzt sie ausgiebig und nimmt alles mit was geht. „Im Laufe des Studiums konnte ich in viele verschiedene Bereiche meines Faches hineinschnuppern und mich so sehr gut nach meinen Interessen orientieren“, erinnert sich die Ingenieurin. Als die Wahl einer Bachelor-Arbeit ansteht, entscheidet sie sich für Prof. Dr.-Ing. Christian Keindorf als Betreuer. Der schlägt ihr vor, Lastenrechnungen für schwimmende Offshore-Windräder unter Verwendung einer Software durchzuführen. Konkret bedeutet das, die Lasten, die auf ein schwimmendes Windrad einwirken, zu berechnen. Dazu werden an einem Computermodell Belastungen auf die Konstruktion durch Umwelteinwirkungen wie Wind und Wellenbewegung simuliert. Was sie daran besonders reizt: Die Software ist neu. Ausführliche Hilfestellungen gibt es noch nicht in dem Maße, wie bei bereits etablierten Programmen. Siebrecht packt der Ehrgeiz: „An diesem Programm habe ich mir in den Wochen danach nächtelang die Zähne ausgebissen.“
Genau diese Eigenschaft an sich betrachtet sie als ihren Schlüssel zum Erfolg: „immer den Weg der Herausforderung gehen“. Nach dem Abschluss des Bachelors, gönnt sie sich einen Urlaub auf Teneriffa. Dort bekommt sie eine E-Mail von Professor Keindorf, der fragt, ob sie sich nicht mal bei der Firma Aerodyn melden möchte. An eine passende berufliche Tätigkeit hat sie bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gedacht. Die Firma entwickelt Offshore-Windräder, die auf Schwimmelementen montiert sind. „Anders als bei konventionellen Anlagen, müssen diese nicht fest am Meeresboden installiert werden“, erklärt sie. Das findet Siebrecht besonders spannend, immerhin gab es das bisher nicht in Serienreife. Sie meldet sich bei Aerodyn und wird dort zunächst Praktikantin. Zusätzlich hängt sie an den Bachelor nun noch den Master-Studiengang ‚Wind Engineering‘ der Hochschule Flensburg ran. Danach zieht sie in die Nähe des Aerodyn-Firmensitzes nach Alt Duvenstedt bei Rendsburg, wo sie eine Festanstellung erhält.
Heute führt Siebrecht bei Aerodyn sogenannte Lastenrechnungen durch – ihre Spezialisierung, die aus der Abschlussarbeit hervorging. „Welchen Bereich genau ich vertiefen wollte, wusste ich lange gar nicht“, beginnt Siebrecht die Entstehung ihrer heutigen Tätigkeit zu erklären. Da es noch keinen serienreifen Prototypen gibt, ist die ehemalige FH-Studentin mit ihrer Spezialisierung auf Lastenrechnung bei Aerodyn sehr gefragt. Auch hier willigt sie sofort ein, als sie gefragt wird, ob sie sich für ihre Aufgabe in ein neues Programm einarbeiten will. „Im Groben und Ganzen“, erklärt sie, „muss man schauen, inwiefern die Berechnungsmodelle von herkömmlichen Windanlagen auf unsere schwimmenden Varianten anwendbar sind.“ Für diese Berechnungen wertet die FH-Absolventin Messdaten aus Versuchen mit Modellen im Maßstab 1:10 aus, „wobei man natürlich bedenken muss, dass 1:1 Modelle sich auch wieder anders verhalten würden.“
Beispielsweise gibt es noch keine ausreichenden Rechengrundlagen, um die Dimensionierung von entsprechenden Ankerseilstärken zu bestimmen. Welche Dicke ist notwendig? Welches Material wird verwendet? „Bei den Turbinen, stellt sich die Frage, ab welcher Windstärke der Schub gedrosselt werden soll. Was hält das Material aus?“ Hier spielen auch Abwägungen im Spannungsverhältnis zwischen Langlebigkeit des Materials, Wartungsintensität, Umweltverträglichkeit, Effizienz und Kostenbegrenzung mit rein. Auch die für diese Form der Energiegewinnung notwendige Verkabelung gibt es bisher nicht. „Da die Anlagen im Wasser treiben und dessen Bewegungsdynamik ausgesetzt sind, muss das Material entsprechend den Bedingungen flexibel belastbar sein. Da muss schon eine ganze Menge bedacht und berechnet werden“, fasst sie die Herausforderungen zusammen. Sofern eine Komponente des Baus abgeändert werden muss, zieht das eine Fülle an Neuberechnungen nach sich. „Wenn das Schwimmelement zum Beispiel verändert wird, kann das Einfluss auf den Neigungswinkel bei Wellengang haben. Denn muss neu gemessen werden, ob der Mast diese Lasten aushält“.
Am meisten vermisst die Ingenieurin an Kiel die unmittelbare Nähe zur Ostsee. „Aber naja, von Rendsburg aus geht es ja zum Glück auch ziemlich schnell“, freut sie sich. Bedauern tut sie ihren Umzug aufs Land nicht. Im Gegenteil: Der städtischen Wohnlage trauert sie nicht nach. Für ihre Wassersport-Utensilien braucht sie nämlich ein großes Auto – und damit ausreichend Parkfläche, die in der Stadt knapp war. „Außerdem freut sich mein Hund glaube ich ziemlich über die neue ländliche Heimat“, lacht sie. Ihrer Zukunft sieht sie zuversichtlich entgegen. Schließlich entwickle sich ihr Arbeitgeber immer weiter und es würden immer neue Aufgaben entstehen. Sie rechnet fest damit, dass nach dem Prototyp die serielle Produktion starten wird, die ebenfalls betreut und laufend nachgebessert werden muss. Interessenten aus aller Welt für mögliche Großbestellungen gibt es bereits. Für die Zukunft gibt es bei Aerodyn bereits weitere Pläne. Nach dem ersten schwimmenden Windrad nezzy, ist mit nezzy² bereits eine Weiterentwicklung in Planung. Statt nur einer Turbine wird es denn gleich zwei geben. „Man kann sich ja ungefähr vorstellen, was es da wieder an Neuberechnungen gibt“, hält Merle Siebrecht fest, die daran bestimmt ihren Anteil haben wird.