von Katja Jantz
Entspannt durch die Gegend schlendern, sich abseits von gewohnten Wegen treiben lassen, den Gedanken nachgehen, neben der Umgebung vielleicht auch kreative Züge an sich entdecken und das ohne jeglichen Druck, ohne Hintergedanken – wo gibt es dafür im oftmals hektischen Alltag noch Gelegenheiten? Zum Beispiel an der Fachhochschule Kiel.
Studierende sehen selten einen Anlass, sich länger als nötig an ihrer Hochschule aufzuhalten, und lernen den Campus und seine Umgebung daher kaum kennen, so die Erfahrung von Pädagogin Regina Schaller. „Sie kommen zu den Vorlesungen – und anschließend gehen sie wieder. Ihre Freizeit verbringen sie meist woanders.“ Das passiere ganz automatisch, denn sie empfänden ihre Hochschule häufig nur als eine Art „Durchgangsraum“, als relativ sterilen, standardisierten Ort, an dem sie sich nur zu einem bestimmten Zweck aufhielten: nämlich zum Studieren. Auch an der FH Kiel zeigt sich – nicht zuletzt bedingt durch ihre Lage am Stadtrand – dieses Phänomen. „Fakt ist, dass bis heute nur eine Minderheit unserer Studierenden im Stadtteil Neumühlen-Dietrichsdorf wohnt“, so FH-Präsident Prof. Udo Beer. Daher wüssten sie wenig über diese Gegend, ihre Geschichte, ihre Anwohnerinnen und Anwohner.
Um dem entgegenzuwirken und den Studierenden ihren Campus und sein Umfeld näherzubringen sowie gleichzeitig ihre Kreativität anzuregen, bietet die FH Kiel seit Herbst 2013 ganz offiziell zweimal im Jahr ein Forum: Im Rahmen der Interdisziplinären Wochen (IdW) veranstaltet Regina Schaller, Mitglied der FH-Arbeitsgruppe Kreative FreiRäume, einen gleichnamigen Workshop mit dem Untertitel: Entdecke die Möglichkeiten. Den Ansatz, die Bereitschaft von Studierenden zum Verweilen auf dem Campus und zur kreativen Erkundung seiner Umgebung, gezielt zu fördern, verfolgte die heutige FH-Mitarbeiterin bereits in ihrer Masterthesis zum Thema „Universitäre Nichtorte“. Hauptsächlich beschäftigte sie sich dafür mit zwei wissenschaftlichen Methoden, die sie nun – in leicht abgewandelter Form – auch an der FH Kiel einsetzt.
Bevor sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops auf Entdeckungsreise begeben, bittet Regina Schaller sie, sogenannte kognitive Landkarten von der Gegend zu zeichnen. Karten, auf denen sie spontan das wiedergeben, was ihnen im Gedächtnis geblieben ist. „Da das subjektive Empfinden dabei eine große Rolle spielt, können die Ergebnisse erheblich von der Realität abweichen“, weiß Regina Schaller aus ihrer Masterarbeit. So tauchten darin zum Beispiel plötzlich Ampeln an Kreuzungen auf, an denen sich keine befänden. Oder es würden nur für das eigene Studium relevante Gebäude abgebildet, also weniger als tatsächlich vorhanden seien. Manche zeichneten auch ihr Zuhause mit ein, obwohl es objektiv betrachtet nicht zum Campus zähle. Mithilfe dieser Methode möchte Regina Schaller nun auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihres Workshops diese Diskrepanz zwischen eigener Wahrnehmung und Wirklichkeit ansatzweise bewusst machen. „Sie zeichnen die kognitiven Karten aber nur für sich selbst, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was sie hier auf dem Campus eigentlich wahrnehmen und kennen – wir besprechen das nicht“, erklärt sie. „Aber bei ihrer Erkundungstour können sie dann direkte Vergleiche ziehen. Würden sie anschließend eine neue Karte anfertigen, könnten sie wahrscheinlich einige Unterschiede feststellen.“ Zwar bleibt dafür in der eintägigen Veranstaltung leider keine Zeit, aber Regina Schaller ist es wichtig, Impulse zu setzen.
Daneben gibt die 36-Jährige den Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine weitere Methode an die Hand: die Dérive, eine psychogeografische Praxis, die die Künstlergruppe Situationistische Internationale 1958 als spielerische Erkundung einer Stadt durch zielloses Umherschweifen definierte. „Durchstreife bekanntes und unbekanntes Terrain. (…) Entdecke neue Perspektiven und Räume deiner ‚Heimat auf Zeit’“, heißt es daher in Regina Schallers Veranstaltungsbeschreibung. „In diesem Prozess ist es wichtig, sich wirklich treiben zu lassen und keinen bestimmten Ort anzupeilen – dann landet man schnell mal an unbekannten Stellen“, erklärt sie.
Das klappt auch ganz gut, wie die Feedbackrunden am Ende der bisherigen Workshops gezeigt haben. Nach dem Spaziergang trifft sich die Gruppe, um Entdeckungen, Perspektiven und Wahrnehmungen auszutauschen. „Die Erfahrungen sind durchweg positiv. Viele Studierende erzählen, sie hätten den Stadtteil ganz anders kennengelernt. Sie sind überrascht, weil sie vorher nicht wussten, dass sie in der Nähe einkaufen oder Geld abheben können, oder weil sie plötzlich in der Nähe auf Plätze gestoßen sind, an denen sie gerne ihre Freistunden verbringen möchten“, erzählt Regina Schaller. Das freut sie besonders, denn damit hat die AG Kreative FreiRäume, wenn auch in kleinem Rahmen, eines ihrer Ziele erreicht. Auch Prof. Beer, ebenfalls AG-Mitglied, hält den Workshop für wertvoll. Er helfe, die Verankerung der Hochschule in Neumühlen-Dietrichsdorf zu fördern. „Die eigenständige Erkundung öffnet den Blick für die vielen kleinen Sehenswürdigkeiten, die Lebensverhältnisse unserer Nachbarn, die Schönheit der Umgebung und die Spannungsverhältnisse zwischen Hafen und Hochschule, Unter- und Oberland, Schwentine und Förde, Arbeiterviertel und bürgerlichen Wohnquartieren in Mönkeberg und Heikendorf und vieles mehr.“
Die Studierenden haben jedoch nicht nur Gelegenheit, den Stadtteil zu entdecken, sondern auch kreative Züge an sich selbst. Mit beliebigen Mitteln sollen sie die Strecke und ihre Entdeckungsreise dokumentieren. „Das können Fotos sein, Zeichnungen, Audioaufnahmen. Theoretisch könnten sie auch Steine von der Straße aufsammeln, wenn es ihnen sinnvoll erscheint. Da sind keine Grenzen gesetzt“, sagt Regina Schaller. Dieser Teil liegt ihr besonders am Herzen, denn Kreativität kommt ihrer Meinung nach im Privatleben heutzutage sehr oft zu kurz. „Im Berufsleben hingegen wird sie geradezu gefordert. Unternehmen suchen ständig nach neuen Ideen und unterstützen das über unterschiedliche Techniken und Trainings.“
Auch Regina Schaller möchte den Studierenden Ideen mit auf den Weg geben und ihnen außerdem eine ungezwungene Atmosphäre – eben Freiraum – bieten, etwas Neues kennenzulernen. Dieses Angebot scheint anzukommen, die Teilnehmerzahl steigt von Mal zu Mal an. „In einem Durchlauf hatte ich einen Studenten vom Fachbereich Informatik und Elektrotechnik dabei, der meinte, neben seinem alltäglichen Semesterprogramm aus Programmieren, Technik und Mathematik wolle er nun auch mal etwas Kreatives machen“, erzählt Regina Schaller. Ausgerüstet mit einer Kamera sei er losgezogen, um seine Entdeckungsreise durch den Stadtteil fotografisch festzuhalten.
Wer sich entscheidet – und das tun die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer –, seine Dokumentation auszuarbeiten und später offiziell einzureichen, erhält dafür 0,5 ECTS-Punkte. Überwiegend handelt es sich dabei um Powerpoint-Präsentationen mit Fotos, doch auch eine Slideshow und ein kurzer Erfahrungsbericht waren schon dabei. Diese Ergebnisse sind auch für Regina Schaller interessant. „Ich kenne den Stadtteil selbst nicht im Detail und kann manchmal gar nicht zuordnen, was auf den Bildern zu sehen ist“, gibt sie schmunzelnd zu. „So habe ich beispielsweise erfahren, dass etwas, was ich immer für eine Brücke gehalten hatte, eigentlich ein ehemaliger U-Boot-Bunker ist.“
Überrascht ist sie auch von der Bereitschaft der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die bisher immer aus verschiedenen Fachbereichen der Hochschule stammten, sich – ganz im Sinne der Interdisziplinären Wochen – miteinander zu vernetzen und in gemischten Gruppen loszuziehen. Und nicht nur das: Gezeigt hat sich außerdem,
dass sich die Studierenden auf ihrem Weg durch den Stadtteil nicht scheuen, Kontakte zu Anwohnerinnen und Anwohnern zu knüpfen, um beispielsweise zu fragen, ob sie deren Häuser fotografieren dürfen.
Der IdW-Workshop ist jedoch nicht der einzige Erfolg der AG Kreative FreiRäume. Auf Anregung seines Direktors Eduard Thomas, dem Initiator der AG, wird das Zentrum für Kultur- und Wissenschaftskommunikation der FH Kiel künftig in Kooperation mit dem Studentenwerk Schleswig-Holstein auf seiner Sternwarte einen Astronomiekurs für Studierende anbieten. „Für unsere Studierenden ist es wichtig, sich nicht nur mit ihrem Studium zu beschäftigen“, weiß auch Prof. Udo Beer. „Kultur wird auf unserem Campus nicht aus Zufall groß geschrieben, sondern weil wir diesen intellektuellen Ausgleich für mindestens so wichtig halten wie einen sportlichen.“ Dafür möchte die Hochschule ihren Studierenden genügend „Futter“ liefern.
Studentin Katharina Pausch (22 Jahre) vom Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit nahm im November 2014 am IdW-Workshop „Kreative FreiRäume“ teil
Seit ich an der FH Soziale Arbeit studiere, habe ich zu fast allen Interdisziplinären Wochen einige Kurse besucht. Ich muss zugeben, dass ich mir den Workshop anders vorgestellt hatte; ich bin immer auf der Suche nach kreativen oder künstlerischen Kursen und dachte, dass dies auch bei diesem im Mittelpunkt stehen würde. Das war zwar nicht der Fall, aber ich war überrascht, wie viel Spaß er mir gemacht hat welche Anregungen ich mitnehmen konnte.
Ich kannte von Dietrichsdorf bislang nur den Weg, den der Bus zur FH nimmt, und fand die Idee spannend, einen Ort ohne ein bestimmtes Ziel und ohne Druck zu erkunden. Denn wann nimmt man sich im Alltag schon mal die Zeit, durch sein Umfeld zu laufen und zu schauen, was es sonst noch so bietet? In der Regel fahren wir alle doch nur zum Campus, bleiben während unserer Kurse dort und fahren denselben Weg wieder heim und das wollte ich gerne mal durchbrechen.
Ich habe mich einer Gruppe von vier Studenten aus dem Fachbereich Informatik und Elektrotechnik angeschlossen. Abgesehen davon, dass wir unsere Strecke dokumentieren sollten, gab es keine Vorgaben. Ich fotografiere sehr gern, aber im Alltag geht das ja doch häufig etwas unter. Bei diesem Workshop habe ich die Gelegenheit genutzt und ganz spontan und unbewusst entschieden, was ich aufnehmen möchte, und so ein paar schöne Fotos mit nach Hause genommen.
Ich war überrascht von unserer „Entdeckungsreise“: Zugegebenermaßen hatte ich nicht damit gerechnet, dass der Stadtteil so groß ist und es abseits der Hauptstraße noch so vieles zu entdecken gibt. Wir sind zum Beispiel an einem Teich vorbeigekommen, haben kleine Läden ausfindig gemacht, Schrebergärten, das Brezelhaus und sogar einen wunderschönen Aussichtspunkt über einen Teil Dietrichsdorf gefunden.
Doch ich habe nicht nur den Stadtteil besser kennengelernt, sondern auch neue Kontakt geknüpft. Es war unfassbar witzig, sich mit den anderen Gruppenmitgliedern über die jeweiligen „Vorurteile“ zu unterhalten, die die einzelnen Fachbereiche gegenüber anderen haben. Sporadisch schreiben wir uns mal und haben auch nach wie vor eine Ebbelwoi-Verköstigung geplant. Dies als kleine Erinnerung an die Herren.