Wenn in Deutschland von Armut die Rede ist, ist damit „relative Armut“ gemeint: Menschen leben hierzulande in der Regel nicht unterhalb eines absoluten Existenzminimums, indem ihnen etwa die lebensnotwendige Versorgung mit Nahrung oder sauberem Trinkwasser verwehrt bleibt. Relativ arm zu sein bedeutet vielmehr, dass Menschen in ihrer alltäglichen Lebensführung im Vergleich zu anderen benachteiligt sind, weil sie unterhalb der Schwelle dessen bleiben, was zur Teilhabe an der Gesellschaft als notwendig und angemessen angesehen wird. Teilhabe wird in unserer Gesellschaft maßgeblich über das Vorhandensein eines Einkommens vermittelt, über das wiederum eine Vielzahl von Bedürfnissen befriedigt werden kann. Teilhabe betrifft aber z.B. auch die uneingeschränkte Teilhabe an sozialen Rechten, die Teilhabe an sinnstiftenden sozialen Beziehungen oder am kulturellen Leben. In einem reichen Land in Armut leben zu müssen, bedeutet dabei nach Staub-Bernasconi (2013, S. 66), sich täglich zwischen der Befriedigung biologischer, sozialer, kultureller, psychischer Bedürfnisse entscheiden zu müssen.
Mit Blick auf die Dimension des Einkommens zeigt sich in Deutschland eine sehr ungleiche Verteilung. Die Schere öffnet sich hier bereits seit etwa zwei Jahrzehnten deutlich: Auf der einen Seite entfällt ein immer größerer Teil des gesellschaftlichen Vermögens auf das oberste Zehntel der Bevölkerung. Auf der anderen Seite werden Schutzstandards in der Erwerbsarbeit abgeschmolzen und Errungenschaften sozialstaatlicher Sicherung abgebaut. Das führt zu einer Zunahme, sowohl verstetigter Armutslagen als auch dem Phänomen, dass Menschen zwischen einem ‚Drinnen‘ und einem ‚Draußen‘ am Arbeitsmarkt pendeln und teilweise trotz Erwerbsarbeit auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind. Es handelt sich um eine gesellschaftlich explosive Gemengelage: Armut und soziale Ungleichheit gefährden den sozialen Frieden, wenn viele Menschen zeitweise, wiederholt oder dauerhaft von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben, während wenige über ein Vermögen verfügen, das nicht durch Leistung zu rechtfertigen ist.
Was ist das Problem?
Gegenwärtig erleben wir eine von einer wirtschaftsliberalen Ideologie geprägten Sozialpolitik, die die Ursache für soziale Probleme ausschließlich im individuellen Verhalten sucht. Diejenigen, die arm und hilfebedürftig sind, werden als leistungsunwillig und zu wenig anpassungsbereit diffamiert. Diese Sichtweise scheitert aber bereits daran, dass Menschen schon mit völlig anderen Voraussetzungen in die Gesellschaft starten: Statt mit einer Chancengleichheit haben wir es mit einer Vererbung sozialer Chancen und Risiken zu tun. Zudem kann es vielfältige Gründe geben, die in eine vorübergehende oder dauerhafte Hilfebedürftigkeit führen. Statt die notwendige Hilfe und Unterstützung für diese Menschen unter Vorbehalt zu stellen und auf die individuelle Eigenverantwortung zu verweisen, muss eine wohlhabende Gesellschaft jenen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, Solidarität zukommen lassen – nicht zuletzt aus eigenem Interesse: Aus Not und Zwang kann keine Eigenverantwortung entstehen. Eine sinnvolle Politik der Aktivierung muss deshalb eine Politik sein, die Menschen Handlungsspielräume eröffnet. Kurz gesagt: Was diese Gesellschaft braucht, ist eine umfassende Solidarität mit den vermeintlich Schwachen und Hilfebedürftigen.
Stattdessen (und in Reaktion auf diese neoliberale Sozialpolitik) erleben wir gegenwärtig die Zunahme rechtpopulistischer Strömungen, die eine Antwort auf diese Probleme in der Propagierung exklusiver Solidaritäten sucht. Das ist eine historisch bekannte und billige Antwort, die auf die Konstruktion eines imaginären ‚Wir‘ beruht: Schuld sind die Anderen, und wenn ‚wir‘ diesen Anderen soziale Rechte und Teilhabechancen vorenthalten, wird es ‚uns‘ besser gehen. Diese scheinbare Lösung, die mit den Ängsten vor dem sozialen Absturz spielt, geht jedoch an den eigentlichen Problemen dieser Zeit vorbei. Denn eine solche exklusive Solidarität vertieft die Gräben in der Gesellschaft, anstatt sie zu überwinden. Es verschiebt das Problem lediglich auf andere Gruppen in der Bevölkerung, ohne es lösen zu können.
Es braucht ein zeitgemäßes System der sozialen Umverteilung
Aber wie lässt sich das soziale Problem der Armut wirkungsvoll überwinden? Hierzu bedürfte es einer Sozialpolitik, die das Prinzip der Solidarität zu ihrem Leitbild erhebt. Das bedeutet nicht die Rückkehr zur ‚alten‘ Sozialpolitik vor der Agenda 2010 und Hartz IV. Vielmehr bedeutet es, in Bezug auf das Verständnis von sozialer Sicherung weit darüber hinauszugehen: Sozialstaatliche Leistungen sind kein Luxus, auf den man auch verzichten kann, sondern sie unterstützen Menschen dabei, ihre Ziele im Leben zu entwickeln und zu verwirklichen, wenn sie das– aus welchen Gründen auch immer –nicht aus eigener Kraft schaffen. Die Autonomie des Einzelnen verwirklicht sich erst unter Bedingungen, die eine Entfaltung der individuellen Potenziale befördern. Hier haben Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern nach wie vor einen riesigen Vorteil gegenüber Kindern aus einkommensarmen Haushalten. Leider starten eben nicht alle von der gleichen Startlinie, wie das die wirtschaftsliberale Ideologie unterstellt, sondern die Chancen sind sehr ungleich. Das setzt sich im weiteren Leben fort.
Deshalb bleibt es auch unzureichend, die Bekämpfung von Armut auf die Bekämpfung von Kinderarmut zu reduzieren: Arme Kinder leben immer in Haushalten, die in oder am Rande der Armut stehen. Und in diesen Haushalten werden nicht nur ungleiche Teilhabechancen reproduziert, sondern es wird auch die Sicht auf eine gespaltene Gesellschaft weitergegeben, in der die eigene Position ganz unten ist, und in der solche Positionen (oben wie unten) als etwas Schicksalhaftes erscheinen. Sozialpolitik muss hier neue Instrumente entwickeln, die die Chancen einer Person, an der Gesellschaft teilzuhaben an jedem Punkt der Biografie unterstützen. Nur dadurch ließe sich der Teufelskreis der Armut aufbrechen.
Die neoliberale Antwort auf das Problem von Armut lautet: Hilf dir selbst! Die rechtpopulistische Antwort lautet: Solidarität soll nur für bestimmte Gruppen gelten! Beide Antworten verschärfen das Problem anstatt es zu lösen. Es bedarf von Seiten der Politik visionäre Lösungsansätze, die sich trauen, notwendige Schritte darüber hinaus zu gehen.
Ein vieldiskutierter Lösungsansatz ist das bedingungslose Grundeinkommen. Ein Vorteil dieses Ansatzes liegt sicher darin, dass es auf eine radikale Gleichheit zielt: Indem alle dieses Einkommen erhalten, verlieren Sozialleistungen ihren stigmatisierenden Effekt. Auch wäre damit eine Vereinfachung und Entbürokratisierung bisheriger Leistungssysteme möglich. Ein Nachteil ist aber, dass damit die Relationen zwischen den Einkommensgruppen gar nicht angetastet werden. Dagegen wirken Ansätze, die einen Ausbau der Grund- oder Mindestsicherung fordern, zielgerichtet auf diejenigen, die ‚ganz unten‘ in der Gesellschaft stehen. Ein Nachteil hierbei ist: Es muss eine Bedarfsprüfung stattfinden, die dazu führt, dass mit der Konstruktion von ‚Bedürftigkeit‘ erst ein Status am unteren Rand der Gesellschaft geschaffen und der betreffende Personenkreis zu einem Gegenstand behördlichen Handelns gemacht wird. Zentral wäre zudem, dass eine solche Grundsicherung nicht, wie bisher, nur das Minimum an Teilhabe abdecken darf, sondern bestehende Chancenungleichheiten und Teilhabebarrieren umfassend und effektiv bekämpfen muss.
Wie schon Berthold Brecht sagte: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Auf diesen Zusammenhang übertragen könnte das heißen: Erst muss die Armut überwunden werden, dann können Menschen eigenverantwortlich handeln. Das zu ermöglichen, wäre die Aufgabe einer offensiv und präventiv ausgerichteten Sozialpolitik.
Literatur
Staub-Bernasconi, Silvia (2013): Kritische Soziale Arbeit – ohne auf eine Politisierungsphase Sozialer Arbeit warten zu müssen, in: Stender, Wolfram/Kröger, Danny (Hrsg.): Soziale Arbeit als kritische Handlungswissenschaft. Beiträge zur (Re-)Politisierung Sozialer Arbeit, Hannover.