Soziale Gerechtigkeit ist ein Grundprinzip der Sozialen Arbeit. Aber wie lässt sich überhaupt bewerten, was sozial gerecht ist? In unserer Gesellschaft ist tief verwurzelt, dass wer viel leistet, auch viel verdient. Dieses sogenannte meritokratische Prinzip versteht Soziale Gerechtigkeit als Leistungsgerechtigkeit.
Allerdings ist es eine Tatsache, dass Menschen bereits von ungleichen Ausgangspositionen ins Leben starten. Die einen müssen sich nur wenig anstrengen, um ein Ziel zu erreichen. Für die anderen bleiben Ziele dauerhaft außerhalb ihrer Reichweite. Verantwortlich dafür kann eine Vielzahl von Faktoren sein, die sich gegenseitig verstärken oder abschwächen. Das können beispielsweise der sozioökonomische Status und der Bildungshintergrund der Eltern sein oder Chancen und Hindernisse, die sich aus dem Geschlecht ergeben. Auch aufgrund von körperlichen oder psychischen Merkmalen können Menschen in der Wahrnehmung ihrer Chancen behindert sein. Daher ist es ungerecht, wenn soziale Verhältnisse die Möglichkeiten eines Menschen in einer Weise beschränken, dass bestimmte Ziele im Leben für sie nicht oder deutlich schwerer als für andere erreichbar sind.
Weil nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft die gleichen Chancen haben, um am ‚Rennen um die besten Plätze‘ teilnehmen zu können, ist Chancengerechtigkeit eine Voraussetzung für Leistungsgerechtigkeit. Das ist keine neue Erkenntnis, denn bereits Ende der 1940er Jahre hat der Soziologe Thomas H. Marshall deutlich gemacht, dass es eine Aufgabe des Sozialstaats sein muss, die Chancen der Menschen einander anzugleichen, damit ein faires Rennen stattfinden kann.
Dabei sind die Ressourcen, auf die ein Mensch zurückgreifen kann, ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Chancengerechtigkeit. Zu diesen Ressourcen zählen neben Einkommen, Besitz oder sozialen Beziehungen auch individuell einklagbare soziale Rechte, die Menschen dazu verhelfen können, ihre Chancen zu verbessern. Daneben treten persönliche Potenziale (wie Bildung oder Gesundheit) und institutionelle Bedingungen (wie ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitssystem für alle) als weitere Faktoren, die die individuellen Chancen beeinflussen.
Deutlich wird damit, dass gleiche Chancen für Menschen nicht einfach so da sind, sondern aktiv hergestellt werden müssen. Um zu verhindern, dass Menschen aufgrund ungleicher Voraussetzungen in ihren Chancen begrenzt werden, braucht es Maßnahmen, mit denen ungleiche Startpositionen ausgeglichen werden können. Damit aber bildet in letzter Instanz eine Bedarfs- oder Bedürfnisgerechtigkeit die notwendige Basis für Soziale Gerechtigkeit. Die politischen Räder, an denen dafür gedreht werden muss, sind vielfältig: Sozialpolitik, Bildungspolitik und Gleichstellungspolitik sind nur einige Beispiele. Grundsätzlich gilt aber: Soziale Gerechtigkeit braucht einen aktiven Sozialstaat, der sozialen Ausgleich schafft. Damit wird nicht nur individuelle soziale Teilhabe gestärkt, sondern auch gesellschaftlicher Zusammenhalt. Nicht zuletzt wird es Menschen ermöglicht, ihre Potenziale zu entwickeln und in die Gesellschaft einzubringen. Entsprechend ist das Ziel Soziale Gerechtigkeit kein Luxus, den eine Gesellschaft sich leistet, sondern eine grundlegende Bedingung für ihre Funktion.