Von Mariupol nach Kiel - „Solange du am Leben bist, kannst du alles verändern“
Sasha Vazianova belegt nach ihrer Flucht einen Kurs an der FH. Mit der Campusredaktion spricht sie über ihre Angst um die Eltern und mentale Stärke.
Text: Leon Gehde
Auf dem Smartphone zeigt Sasha Vazianova ihre Instagram-Posts der letzten Tage. Ein Video mit dem Spruch „life after you’ve seen war is like“ wechselt zwischen zwei Szenen hin und her. In der einen steht die 23-Jährige an einem Marktstand auf dem sonnigen Kieler Asmus-Bremer-Platz und begutachtet still die angebotenen Waren. In der anderen ist alles grau – zerstörte Häuser, Panzer, mit Trümmern übersäte Straßen und verletzte Menschen. Beides eigene Aufnahmen, nur wenige Wochen liegen dazwischen. „Die Erinnerungen kommen mir surreal vor, wie ein Film – sie begleiten mich ständig“, versucht Vazianova ihren eigenen Unglauben über das in ihrer Ukrainischen Heimat Geschehene auszudrücken.
In Kiel besucht die Ukrainerin einen Deutschkurs an der Fachhochschule, mittlerweile hat sie einen Vollzeitjob in einer Grafikdesign-Agentur gefunden. Die Fördestadt sei der ideale Zufluchtsort für die Hobbyseglerin, die hier bereits mit anderen Ukrainerinnen einen Segelclub gegründet hat. „Ich fühle mich hier sehr wohl. Kiel ist meiner Heimatstadt Mariupol ähnlich, nur das Wetter ist hier verrückter“, sagt Vozianova und schaut lächelnd auf die Wetter-App ihres Handys, wo ihre russisch besetzte Heimatstadt noch eingespeichert ist – 26°C und sonnig.
Während die russische Armee im Laufe des März 2022 immer weiter auf Mariupol vorrückte, half die 23-Jährige mit ihren Eltern als Teil des Roten Kreuzes ihren Mitmenschen. Eine Gefährdung des eigenen Lebens, die Vazianova jedoch bewusst in Kauf nahm: „Ich konnte nicht im Bunker ausharren. Ich wäre verrückt geworden. Durch das Helfen hatte ich das beruhigende Gefühl der eigenen Initiative.“ Sie versorgte und verbrachte Verwundete, Alte, Kranke und Kinder zu Hilfsstellen und erlebte dabei Tod und unvorstellbares Leid in ihrer Stadt. Die Lage wurde immer bedrohlicher. In den letzten Märztagen floh Vazianova mit einem privaten PKW auf einer Straße Richtung Nordwesten. „Zwei Stunden später wurde diese Straße beschossen und weitere Menschen getötet. Das hätten auch wir sein können - unglaublich“, so Vazianova.
Ihre Eltern jedoch blieben zurück. „Sie haben Angst, von Null anfangen zu müssen. Ich konnte sie nicht überreden. Nun fürchte ich natürlich, dass auch sie getötet werden könnten, aber was soll ich machen?“, fragt die Ukrainerin. In ihr Entsetzen über die elterliche Entscheidung mischen sich Erkenntnis und eine gewisse Einsicht, dass die Eltern nun mal so sind, wie sie sind. Gegen die russischen Soldaten hegt sie keinen Hass: „Ich war unbeliebt in der Schule. Irgendwann habe ich aber erkannt, dass die Kinder, die mich ärgerten, eigentlich traurig waren und keine Liebe bekommen hatten. Sie taten mir leid und genauso empfinde ich heute für die russischen Soldaten. Ich wurde von meinen Eltern geliebt – ich habe keinen Grund zu hassen.“
Wie und wo es in Zukunft für sie weitergeht, weiß sie noch nicht: „Ich plane nicht, ich fixiere mich im Leben nie stark auf etwas. Wenn du dich selbst kennst, machst du dich unabhängig von äußeren Dingen.“ Eine Eigenschaft, die Vazianova hilft, mit ihrer aktuellen Situation umzugehen. Trotz allem ist sie zuversichtlich. „Solange du am Leben bist, kannst du alles verändern“, sagt die Ukrainerin überzeugt und hofft, nach diesem Credo auch ihre Eltern noch zur Ausreise zu bewegen.