Im Vordergrund des Bildes sieht man ein sehr modernes dunkles Gebäude, kurz dahinter kommen Sandsteinhäuser mit Satelitenschüsseln auf den Dächern. Relativ weit in der Ferne stehen antike Säulen und formen einen Platz.© Pri­vat

‚Von Athen ler­nen‘ – Ein­drü­cke einer Stu­di­en­ex­kur­si­on zur do­cu­men­ta 14

von viel.-Re­dak­ti­on

von Lydia Riewe

 

An­fang Mai mach­ten sich 18 Stu­die­ren­de des Fach­be­reichs So­zia­le Ar­beit und Ge­sund­heit mit Prof. Dr. Sa­bi­ne Gros­ser und Doris Nep­pert auf den Weg nach Athen, um die do­cu­men­ta 14 zu be­su­chen. In die­sem Jahr ist die Welt­aus­stel­lung zeit­ge­nös­si­scher Kunst zum ers­ten Mal neben Kas­sel auch in einer an­de­ren Stadt be­hei­ma­tet und trägt den Titel ‚Von Athen Ler­nen‘.

Die Ex­kur­si­on fand im Rah­men des Mo­duls ‚Äs­the­ti­sche Bil­dung‘ statt. Der Äs­the­tik­be­griff lässt sich auf ein alt­grie­chi­sches Wort zu­rück­füh­ren, das wört­lich über­setzt als Lehre der sinn­li­chen Wahr­neh­mung und damit ver­bun­de­ner Emp­fin­dun­gen ver­stan­den wer­den kann. Die Äs­the­ti­sche Bil­dung hat der So­zia­len Ar­beit viel zu bie­ten. In der Aus­ein­an­der­set­zung mit Kunst und vor allem durch ei­ge­ne künst­le­ri­sche Ge­stal­tung kön­nen Men­schen Zu­gän­ge zu ihrer Um­welt und ihren Emo­tio­nen fin­den, Emp­fin­dun­gen und Ge­dan­ken kön­nen aus­ge­drückt und ver­än­dert wer­den. Auf der Akro­po­lis er­fuh­ren wir dann auch, dass schon in der An­ti­ke me­di­zi­ni­sche An­wen­dun­gen durch kul­tu­rel­le An­ge­bo­te er­gänzt wur­den. Pa­ti­en­tin­nen und Pa­ti­en­ten des in frü­he­ren Zei­ten als Kli­nik ge­nutz­ten As­kle­pios­tem­pels wur­den des­halb auch in das nicht zu­fäl­lig in di­rek­ter Nähe lie­gen­de Thea­ter ge­schickt.
Eine mo­der­ne Um­set­zung die­ses Kon­zepts durf­ten wir in einer Ein­rich­tung der so­zia­len Or­ga­ni­sa­ti­on PEP­SAEE ken­nen­ler­nen, die in Athen ver­schie­de­ne An­ge­bo­te zu Ver­sor­gung und Wie­der­ein­glie­de­rung für Men­schen mit psy­chi­schen Er­kran­kun­gen be­reit­stellt. Im zen­tral ge­le­ge­nen ‚day cen­ter‘ fin­den nicht nur Be­ra­tung und Schu­lun­gen, son­dern auch zahl­rei­che Kunst- und Kul­tur­grup­pen statt.

Im EMST, dem na­tio­na­len Mu­se­um für Zeit­ge­nös­si­sche Kunst, tauch­ten wir in die grö­ß­te Aus­stel­lung der do­cu­men­ta in Athen ein. Die Samm­lung des EMST, grie­chi­sche und in­ter­na­tio­na­le Kunst der Ge­gen­wart, ist tem­po­rär nach Kas­sel um­ge­zo­gen, um Platz zu schaf­fen für die Ar­bei­ten von über 70 Künst­le­rin­nen und Künst­ler. Die Weltau­stel­lung be­schränkt sich je­doch nicht auf die Räum­lich­kei­ten der Athe­ner Mu­se­en, sie fügt sich auch in öf­fent­li­che Plät­ze, Stra­ßen oder his­to­ri­sche Orte ein.
An den Aus­stel­lungs­or­ten nah­men wir vor­wie­gend in­ter­na­tio­na­le Gäste war, ob­wohl die do­cu­men­ta in den grie­chi­schen Me­di­en breit be­wor­ben wurde.
Viel­leicht lie­gen Grün­de hier­für in der an­hal­ten­den Krise, las­sen Exis­tenz­ängs­te wenig Raum für die Aus­ein­an­der­set­zung mit Kunst. Oder kön­nen die Werke der do­cu­men­ta einer Be­völ­ke­rung wenig bie­ten, die kon­fron­tiert ist mit hoher Ar­beits­lo­sig­keit, man­geln­der so­zia­ler Si­cher­heit und nied­ri­gen Löh­nen? Eine So­zi­al­ar­bei­te­rin im ‚day cen­ter‘ er­zähl­te uns, dass ihr Lohn in den letz­ten Jah­ren schon mal meh­re­re Wo­chen oder Mo­na­te aus­blieb, da die Stadt nicht zah­len konn­te.

Die do­cu­men­ta 14 bie­tet durch­aus Raum für kri­ti­sche Kunst, die sich mit ver­schie­de­nen po­li­ti­schen und so­zia­len The­men aus­ein­an­der­setzt. So etwa das im­po­san­te Werk ‚Quipu Womb‘ der in Chile ge­bo­re­nen Künst­le­rin Ce­ci­lia Vi­cuña, das von der süd­ame­ri­ka­ni­schen, prä­ko­lo­nia­len Kno­ten­schrift ‚Quipu‘ in­spi­riert ist, die im 16. Jahr­hun­dert durch die spa­ni­sche Be­sat­zung ver­bo­ten wurde. Die tief­ro­ten Woll­fä­den, die im EMST von einer hohen Decke hän­gen, kön­nen -unter an­de­rem- als Hom­mage an die weib­li­chen Mens­trua­ti­on ver­stan­den wer­den, die heute noch welt­über­grei­fend ta­bui­siert wird.
Oder die In­stal­la­ti­on ‚The Dis­as­ters of War‘ des spa­ni­schen Künst­lers Da­ni­el Gar­cía Andújar, die an­ti­ke Schön­heits­idea­le, Ras­sen­theo­ri­en und die In­ter­net-Such­ma­schi­ne Goog­le mit­ein­an­der in Be­zie­hung setzt.
Ver­trei­bung und Flucht, die Ver­schwen­dung von Res­sour­cen oder Le­bens­kul­tu­ren von Min­der­hei­ten sind wei­te­re Schwer­punk­te der do­cu­men­ta 14, die in den Aus­stel­lun­gen künst­le­risch um­ge­setzt wer­den. The­men, die zu­min­dest auf den ers­ten Blick wenig An­schluss an die ak­tu­el­len Pro­ble­me der grie­chi­schen Be­völ­ke­rung bie­ten.

Eine Form der Aus­ein­an­der­set­zung der Athe­ne­rin­nen und Athe­ner mit der do­cu­men­ta fan­den wir schlie­ß­lich in den Stra­ßen, an Haus­wän­den, die viel­fach als Lein­wand für po­li­ti­sche State­ments die­nen: „art: laund­ring money for the rich since al­most fo­re­ver“ steht auf einer Wand, der Schrift­zug „cra­pu­men­ta 14“ ist an vie­len Orten der Stadt zu lesen.

Athen prä­sen­tier­te sich als Stadt der Ge­gen­sät­ze: Un­se­re Wege führ­ten durch dicht be­fah­re­ne, laute Stra­ßen, aber auch durch idyl­li­sche Gas­sen. Tem­pel­rui­nen aus einer an­de­ren Zeit ste­hen zwi­schen mo­der­nen Hoch­häu­sern. Wo mor­gens Ge­schäf­te öff­nen, die Lu­xus­gü­ter an­bie­ten, schla­fen nachts ob­dach­lo­se Men­schen, wäh­rend zahl­rei­che Häu­ser leer ste­hen und ver­fal­len. In ver­schie­de­nen Grup­pen setz­ten wir uns wäh­rend und nach der Ex­kur­si­on äs­the­tisch mit dem Ge­se­he­nen und Er­leb­ten aus­ein­an­der: in Fil­men, mit In­ter­views, Fo­to­se­ri­en zu un­ter­schied­li­chen The­men oder einer Bild-Sound-In­stal­la­ti­on. Dies er­mög­lich­te uns, Wir­kungs­wei­sen Äs­the­ti­scher Bil­dung selbst zu er­fah­ren.

Von Athen Ler­nen, das ist gar nicht so ein­fach in drei Tagen. Zwi­schen brü­ten­der Hitze, vol­len Stra­ßen, lau­ten Näch­ten und müden Bei­nen. Und doch konn­te die Stadt, die schon früh Ge­burts­stät­te gro­ßer Ideen war, uns Ei­ni­ges leh­ren.

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