Kiel© Kuhn

Stu­die­ren in Kiel: Leben auf dem Ost­ufer

von Lena Kuhn

Als ich 2017 aus einem klei­nen Dorf in Fran­ken nach Kiel kam, war die Stadt für mich ein ein­zi­ges, rie­si­ges La­by­rinth. Jede WG, die in mei­ner Preis­vor­stel­lung lag, habe ich an­ge­schrie­ben. Viele davon be­such­te ich auch, und, weil die Bus­li­ni­en der Kie­ler Ver­kehrs­ge­sell­schaft da­mals noch nicht auf Goog­le Maps ein­ge­pflegt waren, lief ich auch wirk­lich sehr viel durch die Ge­gend. Kiel kann vom lie­be­voll sa­nier­ten Alt­bau bis zu eilig zu­sam­men­ge­zim­mer­tem Wohn­block wirk­lich alles. Be­son­ders kann diese Stadt aber: Parks. Für eine Stadt am Meer, die man sich ste­reo­ty­pisch flach wie einen Pfann­ku­chen vor­stellt, ist Kiel auch er­staun­lich hü­gel­las­tig. Bei der Vor­re­cher­che und auch bei Ge­sprä­chen vor Ort wurde mir immer wie­der davon ab­ge­ra­ten, ans Ost­ufer zu zie­hen. Das sei ‚nicht schön‘ und ‚nicht wohn­lich‘, aber auf jeden Fall ‚sehr ge­fähr­lich‘. Nach einem hal­ben Jahr zog ich dann doch auf das Ost­ufer, und ich be­reue es keine Se­kun­de.

Für mein wahr­lich ge­räu­mi­ges Ost­ufer-WG-Zim­mer in einer frisch sa­nier­ten Woh­nung mit schi­cken hohen De­cken, einer Um­ge­bung mit Bäu­men und na­tür­lich einem Park, licht­durch­flu­te­ten Zim­mern und – das klingt für Au­ßen­ste­hen­de merk­wür­dig, aber für Kie­ler*innen ist das tat­säch­lich quasi der Gold­schatz – einem Fens­ter im Bad sowie Fern­wär­me zahle ich we­ni­ger, als ich es mir für ein klei­ne­res Zim­mer am an­de­ren Ufer er­träu­men könn­te. Ei­gent­lich könn­te ich hier mit dem Schwär­men auf­hö­ren, das ist nach lan­ger WG-Suche wirk­lich mehr, als ich mir je hätte wün­schen kön­nen. Habe ich die ein­ge­bau­te Spül­ma­schi­ne er­wähnt?

Aber: Das ist nicht alles. Ich wohne in Kiel-Gaar­den, ein Stadt­teil, den viele nur aus schreck­lich über­zo­ge­nen, do­ku­men­ta­ti­ons-ähn­li­chen und ein­sei­ti­gen Fern­seh­for­ma­ten ken­nen. Der Wi­ki­pe­dia-Ein­trag klingt wie der Alb­traum jedes El­tern­teils, das sich um die Si­cher­heit des Nach­wuch­ses auch nur halb­wegs sorgt. Dem ent­geg­ne ich gerne: Ich wohne gerne in Gaar­den, dem le­ben­digs­ten Stadt­teil Kiels. Auf dem Vine­ta­platz ver­sam­meln sich im Som­mer täg­lich Fa­mi­li­en, sit­zen zu­sam­men und klö­nen. Die Stra­ßen sind aus Pflas­ter­stein, das ent­schleu­nigt Autos im­mens. Häu­fig hüp­fen hier Kin­der wie auf dem Dorf auf der Stra­ße herum. Gerne mal fin­den sich Bil­der mit Krei­de auf dem Boden, dann und wann ist es rat­sam, einem Ball aus­zu­wei­chen. Zu ‚le­ben­dig‘ ge­hö­ren zwar auch laut­star­ke Strei­te­rei­en, das gebe ich zu. Lal­len­de Ju­gend­li­che und bel­len­de Hunde eben­falls. Ohr­stöp­sel kön­nen eine sinn­vol­le In­ves­ti­ti­on sein. Das möch­te ich nicht be­strei­ten.

Was bei Wei­tem nicht hei­ßen mag, dass Gaar­den ab vom Schuss ist. In etwa 15 Mi­nu­ten las­sen sich drei Dinge in un­ter­schied­li­chen Rich­tun­gen zu Fuß be­quem er­rei­chen: Der Haupt­bahn­hof, der den Be­ginn der In­nen­stadt mar­kiert; ein Schre­ber­gar­ten­ge­biet, in dem ein klei­ner See liegt, und das sich wun­der­bar zum Spa­zie­ren­ge­hen eig­net; und eine Kop­pel mit Scha­fen. Ich liebe diese Scha­fe. Auf dem Weg zu ihnen muss ein an­de­res Schre­ber­gar­ten­ge­biet und ein ver­wun­sche­nes Wäld­chen durch­quert wer­den, in dem gerne Eich­hörn­chen her­um­tur­nen. Leser*innen von ‚Pet­ter­son und Fin­dus‘ kön­nen sich dort auf Muck­la-Suche be­ge­ben. Man ist also ent­we­der in kür­zes­ter Zeit in der Stadt im Ge­wu­sel, oder ab­seits der Hek­tik im stil­len Nir­gend­wo – aber immer noch in Kiel. Wer ein biss­chen wei­ter lau­fen mag, durch­quert ein­mal das Vier­tel und lan­det im Werft­park, dem grö­ß­ten und schöns­ten Park Gaar­dens. Dort steht ein Thea­ter, aber es fin­det sich auch ein schnu­cke­li­ger Hügel, auf dem es sich mit einer Pick­nick­de­cke und einem guten Buch ganz wun­der­bar aus­hal­ten lässt.

Knei­pen hat es in Gaar­den quasi an jeder Ecke. Die meis­ten davon habe ich noch nie be­tre­ten, und das habe ich auch nicht vor. Wo mir laute Schla­ger­mu­sik durch die ge­schlos­se­ne Tür ent­ge­gen­drängt, oder wo auf­fäl­lig un­schö­ne Deko hängt, möch­te ich nicht rein. Glück­li­cher­wei­se muss ich das auch nicht. Gleich­zei­tig könn­te ich mich aber auch nicht auf eine Stamm­knei­pe fest­le­gen. In der Eli­sa­beth­stra­ße gibt es ein vegan-ve­ge­ta­ri­sches Knei­pen­kol­lek­tiv, es be­sticht durch das Ve­g­gie-Fut­ter und le­cke­res ge­zapf­tes Bier aus der Ge­gend – und den pun­ki­gen Charme. In einer Lieb­lings­knei­pe in der Il­tis­stra­ße hin­ge­gen gibt’s def­ti­ge, su­per­le­cke­re Haus­manns­kost, be­glei­tet von frisch ge­zapf­tem tsche­chi­schen Bier in einer uri­gen At­mo­sphä­re. In einem Knei­pen­tipp in der Me­du­s­a­stra­ße trinkt sich der Ab­sa­cker da­nach dann ganz von selbst. 

Ein wei­te­rer ab­so­lu­ter Bonus, den ich nicht mehr mis­sen möch­te, sind die vie­len tür­ki­schen und ara­bi­schen Su­per­märk­te. Das ganze Jahr über ver­kau­fen sie fri­sches Ge­mü­se und lan­des­ty­pi­sche Spe­zi­al­tä­ten. Für Stu­die­ren­de auch immer wich­tig: Döner. Den gibt es fast an jeder Ecke hier. Unter mei­nen Freund*innen herr­schen re­gel­mä­ßig emo­tio­nal auf­ge­la­de­ne De­bat­ten über den Bes­ten. Wir kom­men auf kei­nen ge­mein­sa­men Nen­ner, es gibt ein­fach zu viele Gute. Al­ler­dings muss ich zu­ge­ben, dass es auf dem Ost­ufer keine stu­den­ti­schen Clubs zum Fei­ern gehen gibt. Dafür muss man auf das West­ufer, und das kann für man­chen und man­che eine ganz schön lange Weg­stre­cke be­deu­ten. Mit dem Fahr­rad heißt das selbst im ver­meint­lich plat­ten Kiel auch: berg­auf fah­ren. Aber nach dem Fei­ern in der küh­len Mor­gen­luft men­schen­lee­re Stra­ßen hi­n­u­ter­zu­fah­ren, hat sei­nen ganz ei­ge­nen Zau­ber. 

Be­son­ders be­to­nen möch­te ich au­ßer­dem die Nähe zur FH. Je nach Bus­li­nie ist man in drei Sta­tio­nen an der Hoch­schu­le. Ich prä­fe­rie­re al­ler­dings die An­rei­se mit dem Fahr­rad, die seit die­sem Jahr eher ein lu­xu­riö­ses Glei­ten ist. Die Bau­stel­len waren zwar aus­ge­spro­chen ner­vig, aber mitt­ler­wei­le ist der Rad­weg vom Haupt­bahn­hof bis zur Hoch­schu­le schön aus­ge­baut, deut­lich er­kenn­bar und fahr­rad­freund­lich ge­stal­tet. Nur in Gaar­den selbst gilt Vor­sicht: Wenn das Kie­ler Schiet­wet­ter grüßt, kön­nen die ge­pflas­ter­ten Geh­we­ge und Stra­ßen sehr glatt wer­den. Im Win­ter plant man bes­ten etwas mehr Zeit ein. Nor­ma­ler­wei­se ist man aber in knapp 20 Mi­nu­ten an der Hoch­schu­le. Da­nach noch in die Stadt? Gar kein Pro­blem, ein­fach das Fahr­rad auf die Fähre schie­ben und über­set­zen zum an­de­ren För­deufer. Der nächs­te Strand, Has­sel­fel­de, ist von mei­ner Woh­nung aus in unter drei­ßig Mi­nu­ten mit dem Rad und in etwas über drei­ßig Mi­nu­ten mit dem Bus zu er­rei­chen. Park­mög­lich­kei­ten für PKW sind dort auch vor­han­den. Ken­ner*innen lau­fen von Has­sel­fel­de nach Mön­ke­berg am Was­ser ent­lang und ge­nie­ßen die Sicht auf die Se­gel­boo­te in der Förde. (Ja, auch junge Men­schen be­sit­zen hier Se­gel­boo­te. Eure neuen Kom­mi­li­ton*innen neh­men euch viel­leicht eines Tages auch mit aufs Was­ser!)

Zu­sam­men­fas­send möch­te sich sagen: Gaar­den ist güns­tig. Güns­tig ge­le­gen, nicht allzu teuer, ge­pflas­tert mit schö­nen Woh­nun­gen. Aus Er­zäh­lun­gen weiß ich aber auch, dass nicht alle Fle­cken des Vier­tels so sind. Als Faust­re­gel emp­feh­le ich, sich nicht von den Schil­de­run­gen aus ver­schie­de­nen ex­ter­nen Quel­len ein­schüch­tern zu las­sen. Be­sich­tigt vor Ort Woh­nun­gen. Wenn das Bauch­ge­fühl nein sagt, dann nehmt sie nicht. Ge­ra­de in Woh­nun­gen, die schon lange WGs sind, und die eine*n neue*n Mit­be­woh­ner*in su­chen, ist meis­tens aber alles okay – sonst wären die ak­tu­el­len Mie­ter*innen auch schon aus­ge­zo­gen. Fragt, wenn ihr euch un­si­cher seid, man wird euch ehr­lich ant­wor­ten. Wie bei jeder Woh­nungs- oder WG-Suche gibt es schwar­ze Scha­fe und faule Deals. Das soll aber nie­man­den ent­mu­ti­gen, ver­traut auf euer Bauch­ge­fühl. Das Ost­ufer ist wun­der­schön, vol­ler Leben und vol­ler ge­hei­mer Ecken, die ent­deckt wer­den möch­ten. Es ist grün hier, und meis­tens ziem­lich ruhig. Die Nähe zur Hoch­schu­le und die gute Bus­an­bin­dung dort­hin sind ein wah­rer Segen, wenn man mal wie­der ver­schla­fen hat oder einen spon­tan plat­ten Fahr­rad­rei­fen hat und knapp dran ist. Nur Mut!

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