Prof. Dr. Kai Marquardsen steht mit verschränkten Armen in einem langen hellen Flur und blickt in die Kamera.© M. Pilch
Prof. Dr. Kai Mar­quard­sen hat seit vier Jah­ren die Pro­fes­sur für Armut und so­zia­le Un­gleich­heit im Kon­text der so­zia­len Ar­beit inne.

Leben mit Armut

von Frau­ke Schä­fer

Rends­burg/Kiel. Die Dia­ko­nie Schles­wig-Hol­stein und die Fach­hoch­schu­le (FH) Kiel wol­len die Le­bens­ge­schich­ten von Men­schen sicht­bar ma­chen, die mit wenig Geld ihren All­tag be­strei­ten müs­sen. Dazu haben sie jetzt ein ge­mein­sa­mes For­schungs­pro­jekt ge­star­tet. Mit Hilfe von aus­führ­li­chen In­ter­views soll unter an­de­rem er­forscht wer­den, wel­che bio­gra­phi­schen Um­stän­de Armut för­dern oder aus ihr her­aus­füh­ren. Ein be­son­de­res Au­gen­merk legt die Stu­die dar­auf, wie Men­schen ihren All­tag be­wäl­ti­gen und wel­che Stra­te­gi­en sie dafür ent­wi­ckeln. Für das For­schungs­pro­jekt su­chen die Be­tei­lig­ten noch Men­schen, die über ihre Er­fah­run­gen mit Armut be­rich­ten kön­nen.

„In un­se­ren Ein­rich­tun­gen be­ra­ten und be­glei­ten wir viele Men­schen, die von Armut be­trof­fen sind“, sagt Dia­ko­nie-Vor­stand und Lan­des­pas­tor Heiko Naß. „Sie haben ihre Woh­nung ver­lo­ren, sind über­schul­det oder kön­nen kaum mehr am nor­ma­len ge­sell­schaft­li­chen Leben teil­ha­ben. Neben den struk­tu­rel­len Pro­ble­men, wie pre­kä­re Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se oder zu nied­ri­ge Hartz-IV-Sätze, ist es für un­se­re Ar­beit sehr wich­tig zu wis­sen, wel­che per­sön­li­chen Hin­ter­grün­de und Er­fah­run­gen Armut ver­ur­sa­chen kön­nen und wie be­trof­fe­ne Men­schen ganz in­di­vi­du­ell damit um­ge­hen. Mit die­sem Wis­sen kön­nen wir un­se­re An­ge­bo­te noch pass­ge­nau­er aus­rich­ten.“

„Armut ist ein Stig­ma, das Men­schen vom Rest der Ge­sell­schaft trennt“, be­tont Prof. Dr. Kai Mar­quard­sen von der FH Kiel. „Diese Er­fah­rung ma­chen viele Men­schen in Ar­muts­la­gen auch in Schles­wig-Hol­stein tag­täg­lich. Trotz­dem wird Armut ganz un­ter­schied­lich er­lebt und ver­ar­bei­tet. Ziel des Pro­jekts ist es sicht­bar zu ma­chen, dass ste­reo­ty­pe Bil­der der Be­trof­fe­nen zu kurz grei­fen. Wir wol­len ihre Le­bens­ge­schich­ten be­trach­ten, um Wege in die Armut und aus der Armut her­aus bes­ser zu ver­ste­hen. Dabei wol­len wir auch die re­gio­na­len Be­son­der­hei­ten in den Blick rü­cken. Ein be­son­de­res Au­gen­merk wer­den wir aber auf die in­di­vi­du­el­len Stra­te­gi­en der Be­wäl­ti­gung von Armut legen.“

In den kom­men­den Mo­na­ten möch­te Prof. Mar­quard­sen mit sei­nem Team ins­ge­samt 20 Men­schen in­ter­view­en, die von Armut be­trof­fen sind und aus un­ter­schied­li­chen Re­gio­nen kom­men. Dabei sol­len ty­pi­sche bio­gra­fi­sche Ver­läu­fe in die Armut bzw. aus der Armut her­aus­ge­fil­tert wer­den. Es geht um Ge­mein­sam­kei­ten und Un­ter­schie­de, wie die In­ter­view­ten Armut er­fah­ren und deu­ten. Sie sol­len da­nach be­fragt wer­den, wie sie ihre Si­tua­ti­on be­wäl­ti­gen. Au­ßer­dem in­ter­es­siert die Wis­sen­schaft­ler, wel­che Rolle re­gio­na­le Be­son­der­hei­ten sowie die so­zia­le Um­ge­bung bei der Be­wäl­ti­gung von Armut spie­len.

Vor die­sem Hin­ter­grund sucht das For­schungs­team der Fach­hoch­schu­le Kiel nach Men­schen in Schles­wig-Hol­stein, die selbst Er­fah­run­gen damit ge­macht haben, mit wenig Geld über die Run­den kom­men zu müs­sen und sich vor­stel­len kön­nen, aus ihrem Leben zu er­zäh­len. Selbst­ver­ständ­lich wer­den alle Ge­sprächs­in­hal­te streng ver­trau­lich be­han­delt und voll­stän­dig an­ony­mi­siert. In­ter­es­sier­te kön­nen sich auch unter einem an­ony­men Namen mel­den. Für Rück­fra­gen zum Pro­jekt und Ter­min­ver­ein­ba­run­gen steht Jana Matz von der Fach­hoch­schu­le zur Ver­fü­gung: jana.​matz(at)fue-fh-kiel.de.

Am Ende des Pro­jek­tes, im Som­mer 2023, stel­len die For­schen­den die Er­geb­nis­se ihrer Ar­beit bei einem Sym­po­si­um vor. Die Dia­ko­nie Schles­wig-Hol­stein wird dar­über hin­aus die Er­kennt­nis­se ge­mein­sam mit ihren Trä­gern und Ein­rich­tun­gen aus­wer­ten und ge­ge­be­nen­falls die An­ge­bo­te für Men­schen in Armut an­pas­sen.

Im nörd­lichs­ten Bun­des­land leb­ten 2019 knapp 16 Pro­zent der Men­schen mit einem Ar­muts­ri­si­ko. Nach Ein­schät­zung der Dia­ko­nie hat sich diese Zahl seit­her kaum ver­än­dert, die Si­tua­ti­on der Be­trof­fe­nen aber wäh­rend der Co­ro­na-Krise wei­ter ver­schärft. Von Armut be­droht oder be­trof­fen sind vor allem Ar­beits­lo­se, Al­lein­er­zie­hen­de, Fa­mi­li­en mit drei oder mehr Kin­dern sowie junge Men­schen zwi­schen 18 und 25 Jah­ren. Die Fol­gen sind gra­vie­rend: Neben exis­ten­zi­el­len Fra­gen, wie dem Er­halt der ei­ge­nen Woh­nung, ist die Teil­ha­be die­ser Men­schen am ge­sell­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len, sport­li­chen Leben sowie an Bil­dung und Ar­beit stark ein­ge­schränkt. Laut EU-De­fi­ni­ti­on sind Haus­hal­te dann von Armut be­droht, wenn ihnen we­ni­ger als 60 Pro­zent des mitt­le­ren Ein­kom­mens zu Ver­fü­gung ste­hen, für eine al­lein­ste­hen­de Per­son liegt diese Schwel­le in Schles­wig-Hol­stein bei einem Net­to­ein­kom­men von 1.143 Euro.

Kon­takt
Prof. Dr. Kai Mar­quard­sen
Pro­fes­sur für Armut und so­zia­le Un­gleich­heit im Kon­text der so­zia­len Ar­beit
E-Mail: kai.​marquardsen(at)fh-kiel.de

Fried­rich Kel­ler
Pres­se­spre­cher Dia­ko­ni­sches Werk Schles­wig-Hol­stein
E-Mail: kel­ler(at)dia­ko­nie-sh.de

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