FH-Dozentin Prof. Dr. Doris Weßels wurde kürzlich in den KI-Expertenrat Schleswig-Holstein berufen. Damit ist die Expertin für generative KI-Sprachmodelle um einen Posten reicher. Ann-Christin Wimber sprach mit der Professorin über ihr Engagement.
Frau Dr. Weßels, bei Ihnen häufen sich in letzter Zeit die Anfragen zu beratenden Tätigkeiten in Expertengremien. Herzlichen Glückwunsch, aber wie schaffen Sie das alles?
Künstliche Intelligenz und hier der Bereich der generativen KI mit seinen grenzenlos erscheinenden Auswirkungen für das private, berufliche und gesellschaftliche Leben liegt mir einfach sehr am Herzen. Das Thema ist eine wirklich harte Nuss, fordert mich mit seinen immer neuen Fragestellungen und fasziniert mich gleichermaßen – vor allem seit ChatGPT vor 1,5 Jahren aufgetaucht ist. Die Entwicklung in diesem Bereich ist so rasant, da müssen wir dranbleiben. In immer kürzeren Zyklen tauchen neue Funktionen, Anwendungen und Nutzungsmöglichkeiten auf. Es ist einfach großartig, diese spannenden Entwicklungen als einen Kampf der Tech-Giganten der Welt wie etwa Microsoft, Google und Meta täglich live beobachten und sich in den Umgang mit dieser Technologie - zumindest partiell - einbringen zu dürfen.
Sie sind seit kurzem Mitglied des KI-Expertenrates Schleswig-Holstein. Nehmen Sie dort eine bestimmte Rolle ein?
Nein. Ich wurde als Expertin für generative Sprachmodelle in den Rat berufen. Die Landesregierung hat bewusst auf Expertinnen und Experten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens gesetzt - aus Hochschulen, Kirchen, Unternehmen, Verbänden und einzelnen Interessengruppen.
Was ist die Aufgabe des KI-Expertenrates?
Eine unserer ersten Aufgaben ist es, die Auswirkungen des EU-AI-Acts auf kleine und mittlere Unternehmen in unserem Land zu untersuchen. Dabei geht es um ganz unterschiedliche Aspekte: Zum Beispiel, wie sich die neuen Regelungen auf den Arbeitsmarkt und die Kompetenzen und Qualifikationen der Beschäftigten auswirken, aber auch, wie die Akzeptanz von KI-Technologien gefördert werden kann und welche Produkte aus Schleswig-Holstein als High Risk eingestuft werden.
Was besagt denn der AI Act der Europäischen Union?
Die Regel ist Teil der digitalen Strategie der EU. Künstliche Intelligenz soll reguliert werden, um bessere Bedingungen für die Entwicklung und Nutzung der Technologie zu schaffen. Im April 2021 hat die EU-Kommission den ersten Rechtsrahmen vorgeschlagen. Doch dann wurde sie von der Entwicklung der KI-Sprachmodelle überholt. Das führte dazu, dass der ursprüngliche Entwurf gravierend verändert werden musste. Die Herausforderung war und ist immens, weil diese Art von KI-Systemen, gerne auch als General Purpose AI bezeichnet, wegen der grenzenlos erscheinenden Anwendungsvielfalt nur sehr schwer zu regulieren ist. Am 13. März dieses Jahres wurden die Regeln verabschiedet. Unter anderem werden darin KI-gestützte Anwendungen und Produkte in verschiedene Risikoklassen eingeteilt. Je nach Klasse ergeben sich unterschiedliche Pflichten und auch Höchststrafen nach der Schwere des Verstoßes. Das KI-Gesetz gilt für alle Anbieter von KI-Systemen, die auf dem europäischen Markt angeboten werden. Der Begriff Anbieter ist sehr weit gefasst und meint Personen oder Einrichtungen, die entweder ein KI-System entwickeln oder auf den Markt bringen. Dazu zählen auch Importeure, Händler und Betreiber.
Das klingt kompliziert.
Es bedeutet, dass wir uns selbst und die Unternehmen in unserem Land rechtzeitig darauf vorbereiten und ihnen Unterstützung anbieten müssen.
Wie könnte die aussehen?
Ich habe vorgeschlagen, zunächst eine Analyse der europaweit vorhandenen oder gerade entstehenden Lösungen durchzuführen, damit wir in Schleswig-Holstein nicht unnötigerweise eigene Services in Form von Unterstützungs- und Beratungsangeboten schaffen. Aber bei Bedarf lässt sich auch wieder KI nutzen. Es wäre denkbar, dass wir aus dem KI-Anwendungszentrum (KI.SH) heraus einen KI-Chatbot für den EU-AI Act entwickeln, der erste Fragen beantworten und beraten kann – mit dem spezifischen Fokus auf die Rahmenbindungen in Schleswig-Holstein.
Glauben Sie, dass wir in Schleswig-Holstein zu zögerlich sind im Umgang mit KI?
Mich stimmt immer wieder optimistisch, dass wir mit unserem Team aus der Staatskanzlei und unserem Digitalisierungsminister Dirk Schrödter ein hochmotiviertes und engagiertes Team haben, das der KI-Strategie des Landes Schleswig-Holstein schon vor Jahren eine sehr hohe Priorität eingeräumt und mehr Sichtbarkeit gegeben hat. Die Wirtschaft hat nach meinem Eindruck schneller auf KI reagiert als die Wissenschaft. Doch die Entwicklung ist rasant. Wir müssen gemeinsam dieses neue Tempo lernen, um nicht abgehängt zu werden. Schauen Sie sich an, was in den letzten Monaten allein im Bereich der generativen KI passiert ist. Plötzlich können Anwendungen nicht nur Texte und Software-Code generieren, sondern auch Bilder, Audiodateien, Videos; sie können ganze Bücher zusammenfassen und kontextbasierte Inhalte erzeugen. Wir sind plötzlich und unerwartet zu Managern dieser multimodalen Content-Fabrik geworden, die über uns gekommen ist. Diese neue Rolle ist ungewohnt und erfordert ganz neue Kompetenzen, die wir identifizieren und in die Lehre integrieren müssen. Für mich bedeutet dieser kollaborative Prozess von Mensch und KI bei der Produktion von Content eine neue Führungsaufgabe für uns Menschen, die ich als AI Leadership bezeichne.
Und wachsen wir Ihrer Meinung nach zu langsam?
Ja. Die Ansätze, die noch vor einigen Jahren galten, sind nicht mehr zeitgemäß. Unter den neuen Rahmenbedingungen im Zeitalter generativer KI macht es für Organisationen an vielen Stellen keinen Sinn mehr, klassisch sequenziell vorzugehen und langfristig ausgerichtete Strategien in Workshops zu diskutieren, in zeitaufwändigen Prozessen abzustimmen und erst dann in die Umsetzung gehen. Die technologische Entwicklung überrollt uns währenddessen links und rechts. Wir müssen den Musterwechsel hinbekommen, das heißt agiler vorgehen und uns nicht selbst durch interne Strukturen und Prozesse bei der erforderlichen Neujustierung durch veränderte Rahmenbedingungen ausbremsen. Wenn wir weltweit anschlussfähig sein wollen, muss es uns gelingen, die Vorteile dieser Technologie möglichst schnell zu nutzen und gleichzeitig die Risiken in einem vertretbaren Rahmen zu behalten.
Das sehen einige Entscheidungsträger bestimmt kritisch.
Leider ja, aber abwarten und lamentieren hilft nicht. Wir sind wie Getriebene in diesem Prozess. Wir müssen uns der Geschwindigkeit der Entwicklung notgedrungen anpassen, die Potenziale rechtzeitig identifizieren und nutzen. Man sagt uns Deutschen bei unserer Reaktion auf Neuerungen die „German Angst“ nach. Das bedeutet, wir tendieren offensichtlich dazu, eher die Risiken als die Chancen zu sehen. Wenn wir aber übertrieben risikoscheu sind, laufen wir den Möglichkeiten immer hinterher. Es droht die Gefahr, dass wir über kurz oder lang so abgehängt werden, was gerade aus Sicht der Wirtschaft bei dieser Zukunftstechnologie und den darauf basierenden Geschäftsmodellen extrem gefährlich ist.
Gilt das auch für die Lehre?
Auch hier lautet meine Antwort: Leider ja. In vielen Bildungseinrichtungen - von der Schule bis zur Hochschule – weiß ein hoher Prozentsatz der Lehrenden bis heute nicht, welche Möglichkeiten ihnen die KI bietet. Sie wurden auch nicht geschult, weil wir auch dort zu langsam sind. Besonders beunruhigend - und eigentlich auch beschämend - ist, dass 36 Prozent der befragten Studierenden gemäß der letzten BITKOM-Studie die Lehrenden als Bremsklötze in der Digitalität empfinden.
Aber die Studierenden warten auch nicht auf eine Erlaubnis oder auf Seminare zur Befähigung in bestimmten Bereichen der KI. Sie sind in der Regel digital affiner und experimentierfreudiger als die Lehrenden und machen einfach. So driften aber Kenntnis und Unkenntnis zwischen Lehrenden und Lernenden, leider auch innerhalb dieser Gruppen, immer weiter auseinander. Ich glaube, es ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen, diesem wachsenden digital divide entgegenzuwirken und insbesondere die Bildungslandschaft in Deutschland schneller, umfassender und kontinuierlich fit für KI zu machen.
Haben Sie einen Rat für die Entscheidungsträger im Land?
Wir müssen unsere Kräfte stärker bündeln und intensiver voneinander lernen. Wir wissen nicht, welche Themen noch auf uns zukommen - auch als KI-Expertenrat. Ich werde zukünftig auch im KI-Expertenrat der Stadt Wien mitarbeiten. Es deutet sich jetzt schon an, dass sich sehr interessante Synergien mit unseren KI-Aktivitäten im Rahmen der Digitalen Woche Kiel oder auch unserer KI-Strategie im Land ergeben könnten.
Da sind wir wieder bei meiner ersten Frage angekommen: Haben Sie neben Ihrer Hochschultätigkeit überhaupt noch Zeit für diese Tätigkeiten?
Ich gehe nächstes Jahr in den … nennen wir es: Un-Ruhestand. In den vergangenen Jahren habe ich für mich neue KI-Welten entdecken dürfen. Es war und ist für mich eine sehr intensive und herausfordernde Lebensphase, in der ich aber auch viel gelernt habe, bei tollen Veranstaltungen mitwirken durfte, faszinierende Menschen kennengelernt habe und mein Netzwerk exponentiell erweitern konnte. Von daher freue ich mich darauf, auch zukünftig täglich weiter lernen zu dürfen und meine Expertise im Bereich der generativen KI an vielen Stellen einbringen zu können. Wir müssen in Deutschland und natürlich insbesondere im Bildungsbereich bei dieser Zukunftstechnologie und ihrer weiteren Entwicklung dranbleiben und dürfen uns nicht noch weiter abhängen lassen. Das ist eine große und sehr reizvolle Herausforderung, die mich jeden Tag - glücklicherweise immer noch – sehr motiviert!
Vielen Dank für das Gespräch.