Nahezu an jedem Tag des Jahres werden wir auf etwas aufmerksam gemacht, so auch am 20.09., dem Weltkindertag. Kinder und Kindheit sind Begriffe, die sich zunächst einer Hinterfragung entziehen, da alle Menschen eine subjektiv geprägte Idee dazu besitzen. Doch was ist eigentlich Kindheit aus einer kindheitspädagogischen Perspektive? Die Beantwortung auf diese zunächst schlicht anmutende Frage lädt zu einem komplexen Diskurs ein, der u.a. in der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin der Kindheitspädagogik ausgelotet wird. Die dabei diskutierten Bilder von Kindheit sind ein wesentlicher Teil gesellschaftlicher Entwicklungen und Veränderungen. Sie spiegeln Interpretationen eines Wandels von Kindheit wider und konstituieren damit auch den Umgang mit Kindern und deren gesellschaftlichen Status. Wenn wir von Kindheit sprechen, müssen wir uns dem Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln nähern:
Kindheit ist eine prägende Lebensphase
Kindheit als Lebensphase wird von Erwachsenen zunächst einmal als ein Ausgangspunkt und Basis des eigenen Lebensweges konzeptualisiert. Wenn wir als Erwachsene über Kindheit sprechen, erinnern wir persönliche Geschichten, Sinneseindrücke, Gefühle, Phantasien und Realitäten. Die Besinnung des Erwachsenen auf Kindheit ist die Reflexion eines Prozesses – dem Werden. Der Gegenstand des philosophischen Denkens – „Erkenne Dich selbst - Werde der, der Du bist!“ – mündet zwangsläufig in der Reflexion der eigenen Kindheit und in existentialistischen Fragen wie: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wer hat mich begleitet? Wer war mein Vorbild? Wie habe ich gewohnt? Was habe ich gerne gegessen? Wie bin ich zu Bett gebracht worden? Mit wem habe ich gespielt? Wie habe ich mich selbst gefühlt? Gerade besondere Ereignisse werden eine Rolle spielen. So ist perspektivisch davon auszugehen, dass sich die Frage „Wie habe ich die Zeit der Coronapandemie verbracht?“ für die Kinder von heute als Erwachsene von morgen aufdrängt.
Ein Leben lang begleiten uns die Erfahrungen der Kindheit – manche stabilisieren und stärken uns, manche müssen wir überwinden oder gar therapieren. Die in der Phase der Kindheit durchlaufenen Errungenschaften und Entwicklungen, durchlebten Sinneseindrücke und Erfahrungen können nicht abgeschüttelt werden. Kindheit als Lebensphase eint uns Menschen, da wir alle diese Phasen durchlebt haben und gleichzeitig unterscheiden wir uns im Erleben individueller Kindheiten stark voneinander. Ein Austausch über die erlebte Kindheit ist ein wesentlicher Punkt der Begegnung und Beziehung. Geschichten aus der Kindheit helfen uns, unser Gegenüber zu verstehen.
Kindheit ist Wandel
Es lässt sich nicht von der Kindheit sprechen, vielmehr ist Kindheit ein soziales Konstrukt, eingebettet in einen gesellschaftlichen, politischen, sozialen, historischen, psychologischen und pädagogischen Wandel. So bezeichnet der Kindheitsforscher Honig beispielsweise Kindheit als ein “Produkt der Moderne” und der Soziologe Ariés spricht von der „Entdeckung der Kindheit“, denn Kindheit als eigenständige Lebensphase geht auf eine verhältnismäßig kurze Geschichte zurück. Kindheitsexperten datieren ein bis dato unspezifisches Interesse an Kindheit vage auf das 18. und 19. Jahrhundert und begründen ein aufkommendes Interesse an der Kindheit als Folge eines ökonomischen, technologischen und zivilisatorischen Wandels. Der Kindheit wurde damit erstmals ein sozialer Status eingeräumt. Sehr klar formulierten es die Reformpädagoginnen und Reformpädagogen des beginnenden 20. Jahrhunderts in Prognosen auf „das Jahrhundert des Kindes“ (Key). Damit verbunden war die Forderung, Kinder nicht länger als kleine Erwachsene zu betrachten, um deren Eigenständigkeit zu betonen und das kindliche Subjekt aus der Differenzbetrachtung zum Erwachsenen zu lösen. Diese Entwicklung ging einher mit der sich formierenden Kritik an aristokratischer und feudaler Kultur.
Wenn es also nicht die Kindheit gibt, braucht ein Sprechen über Kindheit immer eine Verortung und Betrachtung
- der Bedingungen des Aufwachsens in unterschiedlichen Strukturen und Settings,
- der an das Kind formulierten und nicht formulierten Rollenerwartung,
- der Interaktionen mit anderen Kindern,
- des Erlebens von Beziehungen,
- der von Kindern reflektierten Regeln und Gesetzmäßigkeiten,
- der Vielfalt von Verhaltensmustern,
- der Komplexität von Erziehungsstilen sowie
- einer Analyse eines Bildungsverständnisses.
Mit diesen und weiteren Bezugspunkten können wir das Phänomen Kindheit eingrenzen und beschreibbar machen.
Kindheit ist ein Konstrukt
Kindheit ist ein Konstrukt und ist geprägt von ökonomischem, technologischem und zivilisatorischem Wandel sowie von sozialem Status, Erziehungsstilen, Persönlichkeit. Die Betrachtung von Kindheit braucht Fragen und Spezifikationen ebenso wie einen interdisziplinären Austausch. Ist Kindheit heute Medienkindheit (Postman)? Welche Kinder sind umgeben von Helikoptereltern? Inwieweit verändert Lernbegleitung in Bildungseinrichtungen die gesellschaftliche Selektionsfunktion von Schule (Fend)? Oder ist Kindheit heute Flucht, Protest und Armut? Oder ist Kindheit auch gleichzeitig Armut und Reichtum? Die DJI Studie „Aufwachsen in Deutschland“ kommt zu dem Ergebnis, dass es Kindern und Jugendlichen noch nie so gut ging wie heute. Das gilt aber nur für eine Betrachtung des Durchschnitts, eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen wachsen auch in Deutschland in der Risiko-Lebenslage Armut auf.
Kindheit zu beschreiben, Wandel zu beobachten, Kindheit zu reflektieren und damit zu schützen ist immer auch eine zentrale pädagogische Aufgabe.
Kindheit ist ein juristischer Schonraum
Aus einer juristischen Perspektive wird Kindheit in Deutschland als ein Status der Minderjährigkeit definiert. Kindheit meint hier ganz konkret die Altersphase zwischen 0 und 14 Jahren. Das Kind wird hier als zivil- und strafrechtlich unmündig betrachtet. Damit grenzt sich das Kind nicht nur entwicklungspsychologisch vom Jugendlichen ab, sondern auch in Bezug auf seine noch nicht vorhandene Geschäftsfähigkeit und sein Erwerbstätigkeitsverbot. Das Axiom ist die Minderjährigkeit, die sich mit der Mutmaßung der Unreife, der Schutzbedürftigkeit (z.B. vor Ausbeutung) und der Entwicklungsnotwendigkeit legitimiert.
Kindheit ist Weltaneignung
Kinder sind Entdecker – ausgestattet mit Neugierde und Forschergeist, der sie dazu befähigt, sich gemäß ihrer individuellen Ressourcen und Möglichkeiten ihre Welt anzueignen. Dies geschieht im Prozess der Aneignung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Sinnen. Kinder entwickeln subjektive Theorien, die so lange bestehen bis sie einer Viabilitätsüberprüfung nicht mehr standhalten. Sie eignen sich Wissen an, entwickeln Interessen und lernen, wie man für das Leben lernt. In diesem Prozess brauchen Kinder Begleitung.
Zugleich liegt in der Weltaneignung von Kindern auch Inspiration. Die Welt aus den Augen von Erwachsenen unterliegt immer einer Konstruktion, die zurückgreift auf eigene Erfahrungen. Hier kann eine ‚eigensinnige‘ Aneignung der Welt durch Kinder neue Perspektiven eröffnen.
Kindheit braucht Familie, Bildung und Erziehung
Alle Tendenzen und Ausprägungen sozialen Wandels, die nach unterschiedlichen Modellen in einer Deskription und auch Forderung münden, verweisen direkt oder indirekt auf einen wachsenden oder sich wandelnden Stellenwert von Kindheitsvorstellungen sowie Vorstellungen von Bildung und fordern eine Konkretion von Erziehungsidealen: Wie lässt sich Bildung als die Formung des Menschen im Hinblick auf sein Menschsein, seine geistigen und emotionalen Fähigkeiten verstehen? Wie lässt sich das Wechselspiel „sich bilden“ und „gebildet sein“ (Bildung als Prozess und Zustand) im Wandel der Zeit aufspüren und verschiedene Bildungsideale und Erziehungsvorstellungen ableiten? Die Reflexion des Begriffs Bildung braucht eine Bezugsgröße: sprachlich, kulturell, historisch, gesellschaftlich, interdisziplinär. Eine zentrale Einflussgröße eines Zugangs zur Welt ist die Familie und die damit verbundenen Formen von Pluralisierung.
Betrachtet werden im Studiengang der Kindheitspädagogik Kindbilder, Bildungs- und Erziehungstheorien im Wandel der Zeit. Gemeinsam stellen wir uns den Fragen, wie Kinder in den einzelnen Phasen ihrer Entwicklung individuell und mit Blick auf die zukünftige Gesellschaft begleitet werden müssen.