von Prof. Dr. Raingard Knauer
Die hundert Sprachen des Kindes zu verstehen, aufzugreifen und sichtbar zu machen, darum ging es bei der kindheitspädagogischen Exkursion nach Mailand und Reggio Emilia.
In der Kindheitspädagogik gilt ‚Reggio Emilia’ weltweit als Synonym für eine innovative Pädagogik, die Kinder in ihrer vielfältigen Aneignung der Welt begleitet. Die sechste Exkursion von Studierenden und Lehrenden des Studiengangs ‚Erziehung und Bildung im Kindesalter’ der FH Kiel und des Masterstudiengangs ‚Bildung und Förderung in der frühen Kindheit’ der Universität Köln nach Mailand ermöglichte uns einige Einblicke in dieses faszinierende pädagogische Konzept und die pulsierende Stadt Mailand. Neben den Einblicken in das Reggio-Konzept fanden Gespräche mit Fachkräften aus den Kindertageseinrichtungen italienischer Kitas sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Mailand statt. So wundert es nicht, dass im Mittelpunkt auch in diesem Jahr wieder die vielen Gespräche zwischen den Studierenden und Lehrenden aus Kiel und Köln standen, um sich über die vielen Eindrücke auszutauschen.
Das ehemalige Industriezentrum Mailand hat heute eine führende Rolle als Wirtschafts- und Finanzzentrum Italiens. Der Mailänder Dom, das „letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci in der Kirche Santa Maria delle Grazie, zahlreiche Museen und Theater und nicht zu vergessen der Ruf als Shopping- und Modezentrum machen Mailand zu einer attraktiven Stadt auch für Touristen. Nach Bezug des Hotels gab es am Mittwoch ein wenig Zeit, die quirlige Stadt zu erkunden. Wir besuchten den imposanten Dom, schlenderten durch verschiedene Stadtviertel oder genossen das italienische Flair in Straßencafés.
Der Donnerstag stand im Zeichen eines der bekanntesten pädagogischen Ansätze der Welt, dem Reggio-Konzept. Die 172.000 einwohnerstarke Stadt Reggio nell’Emilia liegt ca. 155 km südöstlich von Mailand. Die Anfänge des Reggio-Konzeptes gehen zurück bis ins Jahr 1945. In diesem Jahr errichteten Frauen der Region aus eigenem Engagement den ersten Volkskindergarten in der Stadt. Seit 1963 wurden die Kindergärten (in Italien spricht man von Schulen, ‚scuola’) von der Stadt übernommen. Dabei stand nicht die Frage im Vordergrund „Was kann die Kommune für die Kinder tun?“, sondern vor allem die Frage „Was kann die Kindheit für die Stadt tun?“. Kinder wurden nicht ausschließlich als Privatangelegenheit verstanden, sondern in ihrer Bedeutung für die Region wahrgenommen. Später kam zur Kleinkinderziehung (Drei- bis Sechsjährige) die Krippenerziehung (Null- bis Dreijährige) hinzu. Heute besuchen 42,92 Prozent der Kinder in der Kommune Reggio nell’Emilia die Krippen und 90,85 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen den Elementarbereich. Für Italien ist dieser Prozentsatz in der Kinderbetreuung sehr hoch.
Kern des Reggio-Konzepts ist das Verständnis vom Kind als ein Subjekt, das über vielfache Ausdrucksmöglichkeiten verfügt (bekannt durch das Gedicht von Loris Malaguzzi über die 100 Sprachen des Kindes), die es zu entdecken und zu unterstützen gilt. Dies geschieht durch vielfältige Anregungen in den Räumen (der Raum gilt als dritter Erzieher) und vor allem durch die ‚Ateliers’. Diese werden als Orte experimentellen Erkundens verschiedener Phänomene verstanden. Hier geht es nicht darum, Kinder etwas zu ‚lehren’, sondern darum, den Forschergeist der Kinder anzuregen, aufzunehmen und mit den Kindern gemeinsam die Welt in ihren vielfältigen Aspekten immer wieder neu zu entdecken. Daher arbeiten in den Kindertageseinrichtungen neben Pädagoginnen und Pädagogen auch Artelieristas (Künstler, Musiker, Gärtner, o.a.).
Zu Studienzwecken, aber auch um die Besucherströme aus aller Welt zu bewältigen, wurde 2006 das ‚centro internazionale loris malaguzzi’ (benannt nach dem langjährigen Leiter der kommunalen Kindereinrichtungen Loris Malaguzzi) eröffnet. Es befindet sich in umgebauten und erweiterten Räumen eines alten lokalen Warenhauses, in dem früher Käse lagerte. Neben Hörsälen und Besprechungsräumen beherbergt das Zentrum vielfältige Forschungs- sowie Projektdokumentationen aus den kommunalen Kindergärten, einen Buchladen sowie verschiedene Ateliers.
Wir hatten die Möglichkeit, uns in dem Atelier, das sich mit Licht und Schatten beschäftigte, näher umzuschauen und die zahlreichen Phänomene und Experimente selbständig zu erkunden. Es war beeindruckend zu sehen, wie mit einfachen Mitteln und Materialien vielfältige Möglichkeiten bestehen, Effekte von Licht und Schatten zu erforschen. Am Rande kam uns die Idee, dass es sinnvoll sei, ausgediente Overheadprojektoren der Hochschulen an Kindertageseinrichtungen zu spenden.
Zum Abschluss unseres Tages in Reggio Emilia besuchten wir die ‚Remida’, ein Wiederverwertungszentrum. Hier werden von Firmen verschiedene Materialien gesammelt und sortiert, die von pädagogischen, kulturellen oder künstlerischen Einrichtungen kostenlos abgeholt werden können. Diese Idee einer Verbindung von Abfallvermeidung und Förderung ästhetischer Bildung war sehr faszinierend und hat auch in Deutschland (z. B. in Frankfurt oder Hamburg, allerdings noch nicht in Kiel oder Köln) Nachahmer gefunden.
Der Freitag stand im Zeichen von Praxis und Theorie. Am Vormittag besuchten wir in kleinen Gruppen verschiedene Kindertageseinrichtungen in Mailand: eine Reggio-Einrichtung, eine Montessori-Kita, die Vorschulgruppe in der Deutschen Schule Mailands sowie eine private bilinguale Kindertageseinrichtung. Die so gewonnenen Eindrücke wurden in vielen Gesprächen reflektiert und mit den Erlebnissen des Vortags verglichen.
Am Nachmittag empfingen uns Kolleginnen und Kollegen der Universität Milano-Bicocca. Sie gaben spannende Einblicke in ihre Forschung, die Lehre und den Theorie-Praxis-Transfer. Es wurde deutlich, dass die Universität eine bedeutsame Rolle in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte, die zunehmend akademisiert wird, spielt und durch ihre Forschung wichtige Impulse in die Praxis gibt. Dies geschieht z.B. auch durch die enge Kooperation mit dem Universitätskindergarten ‚Nido Bambini Bicocca’. Hier werden seit 2005 Kinder von Studierenden und Mitarbeitenden der Universität sowie Familien aus der Umgebung betreut. Gleichzeitig bietet der Kindergarten Studierenden Möglichkeiten für Hospitationen und Beobachtungen. Im Anschluss an den spannenden Vortrag von drei Professoren der Hochschule bestand die Möglichkeit, in dieser Kindertageseinrichtung zu hospitieren.
Auch diese Exkursion war für Studierende und Lehrende wieder eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen kindheitspädagogischen Fragen. Es hab eine Vielzahl an Eindrücken und Informationen, die in vielen Gesprächen bearbeitet und immer wieder neu zusammengesetzt wurden. Vermeintlich Bekanntes wurde bestätigt oder in Frage gestellt – jede und jeder nutzte die Exkursion, um die eigene pädagogische Position zu hinterfragen und gegebenfalls neu zu justieren. Da war schnell vergessen, dass die Wecker in dieser Exkursion aufgrund der Flug- und Buszeiten extrem früh gestellt werden mussten. Und natürlich blieb auch das kulinarische Kennenlernen des Landes nicht auf der Strecke! Ob Pizza, Pasta, Fisch, Fleisch, Salate oder italienisches Eis – kulinarisch war für jede und jeden etwas dabei. Und das bei schönstem Sonnenschein. Da blieb es nicht aus, dass auf dem Rückflug schon die nächste Exkursion geplant wurde. Denn: Der Blick in andere kindheitspädagogische Kulturen schärft auch den Blick auf die Eigene!