"I'm walking ... and yes indeed I’m talking, and talking about the same things every day". Was Fats Domino in dem bekannten Song besingt, bringt meine aktuelle Freizeitgestaltung ziemlich gut auf den Punkt.
Jeden Tag breche ich aufs Neue auf. Ich nehme meine Jacke vom Haken, schlüpfe in meine mittlerweile ziemlich ausgelatschten Schuhe und mache mich auf den Weg. Der tägliche Spaziergang ruft. Bis vor einem Jahr empfand ich es noch als Abenteuer, gespannt auf das, was mich während meines Spaziergangs wohl erwarten würde. Ich war fast schon gezwungen, neue Orte, Wege, Plätze und Parks zu erkunden. Mittlerweile kenne ich nun die schönsten Aussichtspunkte der Stadt und habe herausgefunden, dass es ganz in der Nähe meiner Wohnung einen Wald gibt, den ich bis vor ein paar Monaten noch nie betreten hatte.
Doch nun ist dieser tägliche Spaziergang für mich mehr zu einer Aufgabe geworden, als zu einer Sache, die ich wirklich gern tue. Neben dem täglichen obligatorischen Besuch im Supermarkt wurde das Gehen für mich zu einer Art Flucht. Die Flucht aus meinen eigenen vier Wänden.
Hätte der Lockdown eine Hintergrundmusik, dann wäre es wohl der Song "I’m gonna be (500 miles)“ von den Proclaimers. Denn was tue ich, wenn mir die Decke auf den Kopf fällt? Genau. Spazierengehen. Was tue ich, wenn ich Freunde treffen möchte? Spaziergehen. Ein Tinder Date? Ja lass uns doch… spazierengehen! Vielleicht noch auf einen Kaffee...To-Go?
Gehen ist hoch im Kurs und scheint das Joggen mittlerweile als Trendsportart abgelöst zu haben. Wer ganz professionell unterwegs ist, der trägt neuerdings eine Fitnessuhr oder Smartwatch mit sich, um auch ja auf die 10.000 Schritte am Tag zu kommen. Man hat ja sonst kein Ziel mehr.
Frische Luft tut gut, keine Frage und vor allem, nachdem ich die Luft in meiner Wohnung wohl zum x-ten Mal ein- und ausgeatmet habe, kommt die frische Brise meiner Gesundheit bestimmt zugute. Doch es gibt seit einiger Zeit auch ein paar Dinge, die mich wirklich am Spazierengehen stören.
1. Wenn nicht nur der Schuh drückt, sondern auch die Blase.
Dann beginnt die panische Suche nach der nächsten öffentlichen Toilette, die hoffentlich auch geöffnet hat. Diese Suche stellt sich aufgrund der aktuellen Situation eher als schwierig heraus, denn die meisten Gastronomien haben geschlossen, und nur einige stellen ihre Toiletten der Öffentlichkeit zur Verfügung. Also, was tun? Da heißt es dann entweder den Gang anziehen oder hoffen, dass das ein oder andere Café seine Türen für verzweifelte Spaziergänger*innen mit schwacher Blase nicht komplett geschlossen hat.
2. I see people, people everywhere!
Sie sind überall. Menschen. Mit Hund, ohne Hund, allein, in Begleitung, mit Kopfhörern im Ohr, telefonierend, singend, lachend, weinend, mit Kinderwagen, Rollator, Gehhilfe oder Stock. Auf Inline-Skates, auf dem Fahrrad oder E-Scooter. Es ist schwer geworden, ein ruhiges Plätzchen zu finden, und obwohl man in Zeiten der Pandemie manchmal einsam zu sein scheint, ist man doch nie allein. Was also tun, um den Mitmenschen aus dem Weg zu gehen? Nun, meine Lösung: Sobald die Sonne tiefer steht, werden die Schuhe nochmal zugeschnürt und der Reisverschluss der Jacke wird hochgezogen. Es ist die Zeit der Nachtwanderungen. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich nach einem Abend mit Freunden oder einer Party nach Hause gehen, wenn ich durch die nächtlichen Straßen ziehe. Nur, dass ich stocknüchtern bin.
3. Same, place, same time.
Wenn ich meine aktuellen Gefühle rund um das Thema Spazierengehen beschreiben sollte, dann wäre es wohl: müde. Egal wie wach ich bin. Denn ich bin ermüdet von den Straßen und Wegen und Parks der Stadt. Es scheint alles entdeckt zu sein. Jede Straße erkundet, jedes Haus begutachtet, jede Bank einmal benutzt zu sein. Wenn ich doch noch etwas Abwechslung haben möchte, dann wechsle ich die Straßenseite. Aber selbst das fühlt sich nach ein paar Malen nicht mehr aufregend an. Die Straßen kommen näher, die Wege werden enger, die Häuser scheinen mir entgegen zu kommen. Die Stadt engt mich ein, egal wie groß sie sein mag.
4. „Du hast dich aber verändert! Hast du was mit deinen Haaren gemacht?“
Das fragt mich ein Freund während eines Zoom-Gesprächs. Dabei haben wir uns doch am Tag zuvor erst zum Spazierengehen gesehen. Aber genau da liegt der springende Punkt. Wenn man sich sieht, dann sieht man sich nicht mehr. Spazierengehen ist keine Aktivität, bei der man sich wunderbar in die Augen sehen kann. Ganz im Gegenteil. In den meisten Fällen geht man stur nebeneinanderher, was sollte man auch sonst tun? Wenn dann auch noch die Mütze, der Schal oder die Kapuze dazu kommt, erkennt man sein Gegenüber kaum noch, da kann ich meinem Freund kaum übelnehmen, dass er meine frisch gestylten Haare übersehen hat.
5. Das richtige Tempo
Der/die Spaziergehpartner*in muss weise gewählt sein. Meiner Ansicht nach gibt es vier Typen von Spaziergänger*innen:
Typ 1 – Der Sportler: Er trägt mit Stolz seine Fitnessuhr am Handgelenk und kommt an den meisten Tagen weit über die 10.000 Schritte. Er zieht den Schritt mit jedem Meter, jedem Kilometer immer mehr an, und es scheint jedes Mal eine Steigerung zu geben. Scheller, höher, weiter lautet sein Motto. Spazierengehen ist für ihn längst keine Entspannung mehr, sondern mehr eine Sportart. Nach einem Spaziergang mit ihm ist kaum noch eine weitere Sporteinheit nötig.
Typ 2 – Der Schlenderer: Ein kleiner Stopp hier, ein kurzer Ausblick dort. Vielleicht noch eine kleine Pause an der nächsten Bank? Oh, das Schaufenster sieht aber toll aus. Der Schlenderer kennt keine Eile und ihn scheint das Spazierengehen nach wie vor zu faszinieren. Denn er wird nicht müde und scheint bei jedem neuen Spaziergang genug Gesprächsstoff zu haben, um auch den längsten Ausflug noch ein bisschen in die Länge zu ziehen.
Typ 3 – Der Schleicher: Er hat eigentlich keine Lust. Spazieren ist in seinen Augen eigentlich vollkommen überbewertet, aber irgendwann muss man das Haus ja mal verlassen, frische Luft soll ja guttun. Mit ihm wird jeder Spaziergang mühselig und es fällt dem erfahrenen Frischluftfanatiker schwer, mit ihm Schritt zu halten, denn dieser ist vor allem eines: langsam und schleppend.
Typ 4 – Der Profi: Dieser Typ ist äußerst selten, denn er hat nicht erst seit der Pandemie das Spazierengehen für sich entdeckt. Schon lange zuvor hat er die Vorteile des täglichen Rituals zu schätzen gelernt und – he came prepared. Mit dem Profi wird Spazierengehen zum Erlebnis. Sei es eine ausgefallene neue Route, Snacks in jeder Jackentasche, der wiederverwendbare To-Go Becher oder die Thermoskanne mit heißem Tee sind immer dabei, und natürlich Taschentücher und die obligatorischen 5 Euro für einen spontanen Kaffee auf dem Weg oder das nächste Toilettenhäuschen. Auch das Wetter scheint für ihn kein Problem zu sein. Das Regenradar wird vor jedem Spaziergang ausgiebig studiert, und es kommt kein Schauer unerwartet auf ihn hinab. Und er ist sich sicher, auch wenn das Leben und die Normalität uns wieder haben, er wird weiterhin jeden Tag seine Runden drehen.
6. Low Battery
Diese zwei Wörter bedeuten wohl das Horrorszenario einer/s jeden Spaziergängers/in:. Der Akku des Smartphones ist leer. Der Podcast muss unterbrochen werden, das Telefonat muss beendet werden, die App kann keine Schritte mehr zählen, und man ist vollkommen von der Außenwelt abgeschottet, obwohl man sich mitten in ihr befindet. Spazierengehen ohne elektronische Unterhaltung wird somit nur noch mehr zu einem zwanghaften Ritual, welches man sich nun nicht mal mehr mit musikalischer oder kultureller Untermalung erträglich machen kann. Dann heißt es nur: Schritt anziehen, schnell nach Hause, oder in eine Powerbank investieren.
Und am Ende eines langen Tages und dem Schreiben dieses Textes werde ich mich jetzt erstmal auf meinen wohlverdienten Spaziergang begeben. Mal sehen, wen ich aus meinem Telefonbuch diese Woche noch nicht angerufen habe.