„Ich möchte bei allen Hochschulangehörigen eine Sensibilisierung erreichen“, sagt Kristin Wedemeyer über ihre Arbeit. Im Rahmen des LQI-Projektes („Lehre vielfältig gestalten – Qualifizierte Betreuung und innovative Studienmodelle“) unterstützt sie seit April 2012 Prof. Roswitha Pioch, die Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit. Jeden Dienstag von 11.30 bis 14 Uhr findet ihre Sprechstunde statt (Sokratesplatz 2, Gebäude 3, Raum 7.02).
KJ (Katja Jantz): Wie viele Studierende an der FH Kiel sind behindert oder chronisch erkrankt?
KW (Kristin Wedemeyer): Dazu gibt es bisher keine Umfrage. Ich gehe jedoch davon aus, dass es weitaus mehr sind, als sich bei uns melden. Bundesweit sind nach Angaben des Deutschen Studentenwerks etwa 19 Prozent aller Studierenden betroffen. Davon fühlen sich 44 Prozent in ihrem Studium beeinträchtigt und können ihre Prüfungsleistungen nicht in der vorgeschriebenen Zeit ableisten.
KJ: Was raten Sie Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit?
KW: Seien Sie offen und scheuen Sie sich bei Problemen nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Je offener Sie mit Ihren Beeinträchtigungen umgehen, desto besser. Das ist nicht immer einfach, aber oft lohnt es sich, anderen Menschen einen Vertrauensvorschuss zu geben. Vor allem: Lassen Sie sich frühzeitig beraten und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Als Diabetikerin habe ich selbst eine anerkannte chronische Krankheit und kann mich gut in die Betroffenen hineinversetzen.
KJ: Was zählt zu Ihren Aufgaben an der Hochschule?
KW: Hauptsächlich führe ich Beratungsgespräche mit betroffenen Studierenden. In der Regel geht es um lösbare Probleme wie einen Nachteilsausgleich in der Prüfung. Hierfür müssen die Studierenden ein ärztliches Attest vorlegen – nicht, um ihre Erkrankung zu benennen, sondern ihren Nachteil, damit der Ausgleich möglichst passgenau festgelegt werden kann. Manche Studierende müssen zum Beispiel aufgrund ihrer Krankheit regelmäßige Pausen einhalten und brauchen daher für Klausuren eine Fristverlängerung.
Andere sind jedoch am Ende ihrer Kräfte und wissen nicht, wie sie ihr Studium schaffen sollen. Sobald ich merke, dass sie eine psychologische Betreuung brauchen, verweise ich sie an entsprechende Stellen. Ich ersetze keine ärztliche Behandlung, biete aber daneben auch Gespräche an.
KJ: Wie läuft ein Beratungsgespräch ab?
KW: Erst einmal lasse ich die Studierenden erzählen. Oft sind sie vielseitig belastet. Ich bekomme sehr viele Informationen auf einmal – wo ihre Probleme genau liegen, stellt sich meist erst im Laufe des Gespräches heraus. Gemeinsam versuchen wir, das konkrete Problem herauszufiltern. Dann besprechen wir erste Schritte.
Wichtig ist, dass nicht ich die Probleme löse, sondern die Studierenden in diesem Prozess begleite und unterstütze. Ich stelle Fragen, die sie zum Nachdenken anregen. Woher kommt der Stress, welche privaten Probleme stecken dahinter und vor allem – was muss unbedingt als erstes geschehen, damit es nicht noch schlimmer wird? Oft sagen die Studierenden am Ende: Das war gar nicht so schwierig, aber ich wäre selbst nicht darauf gekommen.
KJ: Welche Probleme sprechen die betroffenen Studierenden am häufigsten an?
KW: Besonders die Studierenden mit chronischen Erkrankungen oder nicht sichtbaren Behinderungen äußern das Gefühl, die Lehrkräfte hielten sie für faul, wenn sie zeitweise ausfallen oder später zur Vorlesung kommen. Ihnen fehlt das Vertrauen, ihren Dozentinnen und Dozenten zu sagen, was mit ihnen los ist. Für viele sind Gruppenarbeiten ein Problem. Sie wollen genauso viel leisten wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen und nicht als jemand dastehen, der mitgezogen werden muss, weil er erkrankt und dadurch eingeschränkt ist. Sich zu öffnen, bezeichnen sie als schwierig.
Einige haben mit Mehrfachbelastungen zu kämpfen. Nach einer überstandenen Krebserkrankung, die Angst, wieder zu erkranken, Stress zum Ende eines Semesters ... Außerdem fallen die betroffenen Studierenden manchmal ein oder zwei Semester zurück, d. h. sie müssen immer wieder neu Anschluss finden und in bestehende Gruppen hineinzukommen, ist nicht leicht.
KJ: Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?
KW: Besonders wichtig ist es mir, die betroffenen Studierenden dazu anzuregen, sich selbst zu helfen und sich zu öffnen. Wenn ihnen zum Beispiel eine Unterschrift für einen Leistungsnachweis fehlt, ist es das Beste, mit der Professorin oder dem Professor zu sprechen und die Situation zu erklären.
KJ: Kennen die Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit ihre Rechte und Möglichkeiten?
KW: Nicht immer. Dann ist es wichtig, sie darauf hinzuweisen. Bei mir war das zu Beginn meines Studiums an der FH Kiel genauso. Glücklicherweise habe ich Prof. Knauer damals von meiner Diabetes-Erkrankung erzählt. Sie hat mich auf den Nachteilsausgleich für Prüfungen hingewiesen – davon wusste ich vorher nichts. Aber so fühlte mich gleich gut aufgehoben. Denn wenn ich meine Möglichkeiten kenne, kann ich entscheiden, ob ich sie in Anspruch nehme. Seine Rechte einzufordern, ist sehr wichtig.
KJ: Wie könnte den Problemen der betroffenen Studierenden an der FH Kiel besser vorgebeugt werden?
KW: Ich habe viele Ideen, sie müssen sich jedoch, auch finanziell, umsetzen lassen. Es geht nicht nur darum, Barrieren im Bereich baulicher Maßnahmen zu beseitigen, sondern ich möchte bei allen Hochschulangehörigen eine Sensibilisierung erreichen. Zurzeit planen Prof. Roswitha Pioch, Silvester Popescu-Willigmann vom Institut für interdisziplinäre Genderforschung und Diversity und ich eine Veranstaltung zu diesem Thema in den kommenden Interdisziplinären Wochen.
Auch unterstützende Maßnahmen, zum Beispiel in der Kommunikation und Präsentation der Lehre sind für die Studierenden mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung sehr hilfreich.
KJ: Wie könnten diese Maßnahmen aussehen?
KW: Skripte zu allen Lehrveranstaltungen wären eine gute Möglichkeit. Die Studierenden sollen nicht mit allen Informationen gefüttert werden, aber die Vorlesung daran nachvollziehen können. So könnten sie sich auf das Gesprochene konzentrieren und das Skript vervollständigen.
Menschen mit besonderen Bedürfnissen dürfen in unserer Gesellschaft – und damit auch an dieser Hochschule – nicht zu kurz kommen. Im Gegenteil, sie müssen genauso behandelt werden wie alle anderen. Überall Skripte einzuführen, wäre eine gute Grundlage für alle Studierenden. Dann müssten die Lehrkräfte auch nicht unbedingt wissen, dass hier jemand sitzt, der wegen eines Tinnitus nicht richtig hören kann, und dort jemand mit schlechten Augen oder einem Stresssymptom.
Laut Hochschulrahmengesetz sollen betroffene Studierende ihr Studium ohne besondere Hilfe bewältigen können, also genauso wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen. Daran müssen wir weiter arbeiten.