Aufnahme der Erde aus dem Weltall© C. Hen­nig

Höher als der Ever­est

von Julia Kö­nigs

Es ist der alles ent­schei­den­de Tag im Juli 2019: Auf dem gro­ßen Park­platz der Fach­hoch­schu­le Kiel füllt eine klei­ne Grup­pe Men­schen einen wei­ßen Bal­lon mit über 4000 Liter He­li­um. Sie tra­gen Schutz­hand­schu­he, knien am Boden, müs­sen dem Zug des immer grö­ßer wer­den­den Bal­lons stand­hal­ten. Noch eine kurze Kon­trol­le, dann geben sie ihr Flug­ob­jekt frei. Schräg steigt der Bal­lon gen Him­mel, unter ihm ein me­ter­lan­ges Seil, an dem eine Sty­ro­por­box um die senk­rech­te Achse ro­tiert. Alle hal­ten den Atem an, als der Bal­lon samt La­dung an einer Haus­wand vor­bei­fliegt — doch zum Glück geht alles gut. 

Wenig spä­ter ver­schwin­det er zwi­schen den Wol­ken. Die Reise des Wet­ter­bal­lons der Stu­die­ren­den der FH hat be­gon­nen. 

Mit me­teo­ro­lo­gi­schen Wet­ter­bal­lo­nen er­kun­den For­scher*innen seit Ende des 19. Jahr­hun­derts ver­schie­de­ne Be­rei­che der At­mo­sphä­re. Der Bal­lon wird heut­zu­ta­ge mit He­li­um ge­füllt, steigt zwi­schen 30 und 45 Ki­lo­me­ter in den Him­mel auf, platzt und fällt zu­rück auf die Erde, wobei er von einem Fall­schirm ab­ge­bremst wird. Spe­zi­el­le Mess­ge­rä­te in einem Nutz­last­pa­ket, die mit den Bal­lo­nen in den Him­mel ge­schickt wer­den, er­mög­li­chen es, Daten aus den ex­tre­men Höhen fest­zu­hal­ten. 

 

Chris­ti­an Hen­nig ist Mas­ter-Stu­dent der Elek­tri­schen Tech­no­lo­gi­en mit dem Schwer­punkt auf Me­cha­tro­nik am Fach­be­reich In­for­ma­tik & Elek­tro­tech­nik. Für ein Pro­jekt im Modul In­dus­tri­el­le Mess­tech­nik von Prof. Dr. Ei­se­le ent­schie­den sich Chris­ti­an und seine Kom­mi­li­to­nen Jacob Leff­ler­und Björn Frese für eine Mess­auf­ga­be mit einem Wet­ter­bal­lon. „Das Ziel des Mo­duls ist es, ex­tre­me Mess­be­rei­che und Mess­me­tho­den zu ana­ly­sie­ren“, er­klärt Chris­ti­an, der als Lei­ter des Teams fun­gier­te. „Wir ent­schie­den uns, einen Wet­ter­bal­lon auf­stei­gen zu las­sen, um ex­tre­me, un­wirt­li­che Mess­be­rei­che für Tem­pe­ra­tu­ren, Druck und Luft­feuch­tig­keit zu un­ter­su­chen.“ Wäh­rend sich ein an­de­res Team in­ner­halb des Mo­duls lie­ber in die Tiefe begab und Mes­sun­gen unter Was­ser in der Schwen­ti­ne durch­führ­ten, stand für das Team um Chris­ti­an schnell fest, dass es in die Luft gehen soll­te. Da Chris­ti­an und Jacob seit Jah­ren im Se­gel­flug in der Aka­flieg Kiel e.V. und dem Luft­sport­ver­ein Kiel e.V. aktiv sind und als aus­ge­bil­de­te Pri­vat­pi­lo­ten Er­fah­run­gen und nütz­li­che Kon­tak­te mit­brin­gen, sind sie für diese Auf­ga­be bes­tens vor­ge­bil­det und ken­nen sie sich mit der Me­teo­ro­lo­gie aus. 

Für ihren Ver­suchs­auf­bau muss­ten die Stu­die­ren­den ei­ni­ge Vor­ar­beit leis­ten: Über Wo­chen be­rei­te­ten sie die Mess­tech­nik vor, nah­men diese in Be­trieb, or­ga­ni­sier­ten wei­te­res Ma­te­ri­al, über­wan­den ad­mi­nis­tra­ti­ve Hür­den wie die recht­li­chen Vor­ga­ben der Lan­des­luft­fahrt­be­hör­de und einer ver­pflich­ten­den Ver­si­che­rung, be­rei­te­ten den ei­gent­li­chen Start vor und wer­te­ten nach er­folg­rei­chem Start die ge­won­ne­nen Daten aus. 

„Zu­nächst muss­ten wir fest­le­gen, wel­che Mess­elek­tro­nik und Sen­so­rik wir ver­bau­en, die wir mit einem Bal­lon in die mitt­le­re At­mo­sphä­re sen­den woll­ten“, so Chris­ti­an. „Unter an­de­rem darf die Tech­nik in der Höhe auf­grund der Tem­pe­ra­tu­ren und des ge­rin­gen Luft­drucks nicht aus­fal­len, was durch­aus pas­sie­ren kann, wenn zum Bei­spiel Bat­te­rie­zel­len von ge­rin­ger Qua­li­tät ver­baut wer­den.“

Das Team der Stu­die­ren­den ent­schied sich für einen red­un­dan­ten Auf­bau. Das be­deu­tet, dass sie un­ab­hän­gig von­ein­an­der mes­sen­de Sys­te­me ein­setz­ten. Zwei Raspber­ry Pi Mi­kro­com­pu­ter, Sen­so­ren für die Druck- und Luft­feuch­tig­keits­mes­sung, ein GPS-Da­ten­log­ger und zwei GPS Tra­cker fan­den in der Box, der so­ge­nann­ten Pa­y­load, Platz. Jedes Sys­tem ver­füg­te über seine ei­ge­ne Span­nungs­ver­sor­gung. Auch eine Pi Ka­me­ra und eine Ac­tion­Cam, nach unten und seit­lich aus­ge­rich­tet, ge­hör­ten zur Fracht. 

„Die ge­sam­te Pa­y­load und der Fall­schirm zu­sam­men soll­ten höchs­tens ein Ge­wicht von un­ge­fähr einem Ki­lo­gramm für einen sta­bi­len Flug bei un­se­rem aus­ge­wähl­tem Wet­ter­bal­lon be­sit­zen, so­dass die Mess­tech­nik dem­entspre­chend eng im be­grenz­ten Raum der Pa­y­load ver­baut wurde“, sagt Chris­ti­an. „Mit den ‚Flü­geln‘ an den Sei­ten sta­bi­li­siert sich die Pa­y­load dann im Flug.“ 

Die FH-Stu­die­ren­den konn­ten für ihren Ver­suchs­auf­bau auf die Un­ter­stüt­zung ihres Do­zen­ten Prof. Dr. Ei­se­le und des­sen wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter und In­ge­nieur Do­mi­nik Hil­pert zäh­len. Ganz be­son­de­re Hilfe er­hiel­ten Chris­ti­an, Jakob und Björn auch von zwei Phy­si­kern aus dem Ex­tra­ter­res­tri­schen In­sti­tut der Chris­ti­an-Al­brechts-Uni­ver­si­tät zu Kiel. „Es war eine hoch­enga­gier­te Zu­sam­men­ar­beit, für die wir sehr dank­bar sind“, sagt Chris­ti­an im Namen der Grup­pe. „Die Phy­si­ker der CAU, Ste­phan Bött­cher und Jonas Zum­kel­ler, ver­sorg­ten uns mit spe­zi­el­lem Ma­te­ri­al, stan­den be­ra­tend zur Stel­le und konn­ten uns auch beim Start des Bal­lons tat­kräf­tig zur Hand gehen. Ihr Fach­wis­sen und ihre Er­fah­rung im Be­reich der Wet­ter­bal­lon­tech­nik hat einen er­folg­rei­chen Pro­jekt­ab­lauf ga­ran­tiert.“ Auch konn­ten die FH-Stu­die­ren­den an der CAU zwei Wo­chen vor dem ge­plan­ten Start einen Ther­mal­va­ku­um-Test durch­füh­ren, der Druck- und Tem­pe­ra­tur­wer­te der an­vi­sier­ten Höhe si­mu­liert. Die Elek­tro­nik be­stand die Ge­ne­ral­pro­be ohne Pro­ble­me. 

Auf dem fast drei­stün­di­gen Auf­stieg er­reich­te der Wet­ter­bal­lon etwas über 40.000 Hö­hen­me­ter, tauch­te also bis in die Stra­to­sphä­re ein. Damit konn­ten die Stu­die­ren­den Daten aus einer Höhe er­fas­sen, die etwa das vier­ein­halb­fa­che der Höhe des Mount Ever­est aus­macht und un­ge­fähr vier Mal höher liegt als die durch­schnitt­li­che Flug­hö­he eines Li­ni­en­flug­zeugs. Wäh­rend der Bal­lon durch die Tro­po­sphä­re und damit Tem­pe­ra­tu­ren von bis zu minus 50 Grad Cel­si­us glei­tet, steigt die Tem­pe­ra­tur ab rund 15-18 Ki­lo­me­tern Höhe wie­der an: In der Stra­to­sphä­re, die die zwei­te Schicht der Erd­at­mo­sphä­re aus­macht, wird die UV-Strah­lung der Sonne auf­grund der Ozon­schicht in Wärme um­ge­wan­delt. Daher sind am obe­ren Ende der Stra­to­sphä­re in 50 Ki­lo­me­tern Tem­pe­ra­tu­ren von bis zu 0 Grad mög­lich. Diese Fil­ter­funk­ti­on der Ozon­schicht schützt das Leben auf der Erde vor einem er­heb­li­chen Teil der UV-Strah­lung.

„Wir konn­ten be­ein­dru­cken­de Bil­der ma­chen, hun­der­te Ki­lo­me­ter weite Sicht über Feh­marn, Lan­ge­land, Ko­pen­ha­gen, Schwe­den und die Spit­ze von Ska­gen. Aber un­se­re Bil­der zei­gen auch, wie dünn un­se­re At­mo­sphä­re ist“, zeigt sich Chris­ti­an be­ein­druckt. 

Via Smart­pho­ne be­hiel­ten die Stu­die­ren­den ihren Bal­lon im Auge, bis das ste­tig ge­sen­de­te GPS-Si­gnal ab­brach. „Wir gin­gen von einem li­nea­ren Auf­stieg aus und er­war­te­ten den cha­rak­te­ris­ti­schen Tem­pe­ra­tur­ver­lauf“, er­läu­tert Chris­ti­an.

Nach etwas we­ni­ger als vier Stun­den des War­tens stell­te sich der Kon­takt zum Bal­lon wie­der ein, nach­dem die­ser bei einem Durch­mes­ser von un­ge­fähr zwölf Me­tern platz­te und nach sei­nem ein­stün­di­gen Ab­stieg in die un­te­re At­mo­sphä­re zu­rück­fiel. „Es ist wich­tig, den Kon­takt zu er­hal­ten, damit man genau ver­fol­gen kann, wo die Nutz­last mit dem Fall­schirm lan­det. Ohne Kon­takt sind keine Ko­or­di­na­ten ver­füg­bar, was eine Ber­gung der Pa­y­load nur schwer mög­lich macht. In einem sol­chen Fall müss­te man hof­fen, dass sie ge­fun­den wird und man über die an­ge­brach­ten Kon­takt­da­ten über den Lan­de­ort in­for­miert wird.“ 

Von sei­nem Start­punkt vom Park­platz der FH flog der Wet­ter­bal­lon mit sei­ner La­dung über den Plö­ner See, dreh­te dann nach Wes­ten ab über Neu­müns­ter und platz­te un­ge­fähr nörd­lich von Ho­hen­west­stedt in über 40.000m Höhe. Chris­ti­an, Jakob und Björn gin­gen davon aus, den Bal­lon west­lich vom Tier­park Neu­müns­ter ab­zu­ho­len, doch die Pa­y­load mit Fall­schirm lan­de­te in der Nähe des Flug­plat­zes It­ze­hoe/Hung­ri­ger Wolf. Dort bar­gen die Stu­die­ren­den und ihre Hel­fer die Über­res­te des Bal­lons und die Pa­y­load mit den­Mess­da­ten. 

Das Fazit: „Wir haben Ex­trem­mess­wer­te von nur 1 Hek­to­pas­cal an Druck ge­mes­sen, an der Spit­ze des Mount Ever­est herr­schen im Ver­gleich dazu 325,4 Hek­to­pas­cal und auf Mee­res­hö­he ein Durch­schnitt von 1013,25 Hek­to­pas­cal“, legt Chris­ti­an dar. „Die käl­tes­te Tem­pe­ra­tur war minus 50 Grad Cel­si­us und als nied­rigs­te Luft­feuch­te konn­ten wir ein Pro­zent fest­hal­ten, wobei die Mes­sung der Luft­feuch­te wegen der Mess­be­din­gun­gen si­cher­lich feh­ler­be­haf­tet ist. Diese Daten kön­nen wir jetzt mit Wer­ten aus der Fach­li­te­ra­tur ab­glei­chen, um die ge­mes­se­nen phy­si­ka­li­schen Grö­ßen der At­mo­sphä­re zu ana­ly­sie­ren.“ 

Die Stu­die­ren­den freu­en sich über den er­folg­rei­chen Ver­lauf ihres Pro­jekts: „Wir haben den or­ga­ni­sa­to­ri­schen Auf­wand ge­meis­tert, die phy­si­ka­li­sche Ge­set­ze durch Si­mu­la­tio­nen nach­emp­fun­den und den Um­gang mit ex­tre­men Mess­me­tho­den er­lernt. Nur als Team konn­ten wir diese Ziele er­rei­chen und den Start er­mög­li­chen. Und wir haben somit er­folg­reich mit un­se­rem Bal­lon etwa ein Zen­tel der Höhe der In­ter­na­tio­na­len Raum­sta­ti­on ISS in der Erd­um­lauf­bahn er­reicht!“, re­sü­miert Chris­ti­an. 

© Fach­hoch­schu­le Kiel