Ein Mann© M. Pilch

Heute in der Reihe „Wie wird man ei­gent­lich Pro­fes­sor*in?“: Kai Mar­quard­sen

von Aenne Boye

Der Wer­de­gang von Pro­fes­sor Kai Mar­quard­sen ist un­ge­wöhn­lich: Nach­dem er über den zwei­ten Bil­dungs­weg am Abend­gym­na­si­um in Flens­burg sein Ab­itur mach­te, zog es ihn nach Göt­tin­gen zum Stu­di­um der So­zio­lo­gie. Mit Aenne Boye sprach er dar­über, wie er 2018 sei­nen Weg zur Pro­fes­sur für Armut und so­zia­le Un­gleich­heit im Kon­text der So­zia­len Ar­beit an der Fach­hoch­schu­le Kiel ge­fun­den hat.

Herr Mar­quard­sen, Sie haben einen Ma­gis­ter­ab­schluss im Stu­di­um der So­zio­lo­gie mit den Ne­ben­fä­chern Me­di­en- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft und Wirt­schafts- und So­zi­al­psy­cho­lo­gie. Wieso fiel Ihre Wahl ge­ra­de auf die­ses Stu­di­um?

Nach der Re­al­schu­le habe ich eine Aus­bil­dung zum Kfz-Me­cha­tro­ni­ker ab­sol­viert und wäh­rend­des­sen am Abend­gym­na­si­um mein Ab­itur nach­ge­holt. Ich stam­me aus einem Ar­bei­ter­el­tern­haus, des­halb war mein Be­rufs­wunsch erst ein­mal hand­werk­lich. Meine Aus­bil­dung zum Kfz-Me­cha­tro­ni­ker fand in einem gro­ßen In­dus­trie­be­trieb statt. Das so­zia­le Mit­ein­an­der und die Dy­na­mi­ken zwi­schen den Be­schäf­tig­ten dort haben mein In­ter­es­se ge­weckt. Dazu kam, dass mir klar war: Diese Ar­beit möch­te ich auf kei­nen Fall mein Leben lang ma­chen. Ich schät­ze, da­mals habe ich re­flek­tiert, was Ar­beit be­deu­tet. Das war wohl der Ur­sprung für mein In­ter­es­se an der So­zio­lo­gie. Ich woll­te gerne aus Flens­burg weg. Dort war mir alles zu be­engt. Das So­zio­lo­gi­sches For­schungs­in­sti­tut (SOFI) Göt­tin­gen hat einen Schwer­punkt auf Ar­beits­so­zio­lo­gie, und das pass­te eben­falls gut. Des­we­gen ent­schied ich mich für das Stu­di­um dort.

Konn­te Ihre Fa­mi­lie ohne aka­de­mi­schen Hin­ter­grund denn etwas mit Ihrer Stu­di­en­wahl an­fan­gen?

Eher we­ni­ger. Das ist aber auch ver­ständ­lich. Es ist schwie­rig kurz und knapp zu er­klä­ren, was ein So­zio­lo­ge ist und was er macht. Von mei­ner Fa­mi­lie kam häu­fig die Frage: Was wirst du denn mal? Das war schwie­rig zu be­ant­wor­ten. Nach dem Stu­di­um bin ich dann auch erst ein­mal ein Jahr ganz kli­schee­haft Taxi ge­fah­ren. Rück­bli­ckend hat mir das Ta­xi­fah­ren Spaß ge­macht aber in dem Mo­ment, als ich nicht wuss­te, für wie lange ich das noch ma­chen muss, war das nicht so spa­ßig. Je­den­falls weiß ich jetzt aus ei­ge­ner Er­fah­rung gut, wor­über in mei­nem For­schungs­be­reich ge­re­det wird.

Und wor­über wird genau ge­re­det?

In mei­ner Dis­ser­ta­ti­on „Ak­ti­vie­rung und so­zia­le Netz­wer­ke. Die Dy­na­mik so­zia­ler Be­zie­hun­gen unter dem Druck der Er­werbs­lo­sig­keit“ habe ich zum Bei­spiel un­ter­sucht, wie sich die so­zia­len Netz­wer­ke und Be­zie­hun­gen von Men­schen ver­än­dern, die in das Sys­tem Hartz IV ge­ra­ten. Das Thema hatte ich mir sel­ber aus­ge­sucht. Da­mals wur­den ge­ra­de die Hartz-Ge­set­ze neu ein­ge­führt, was mei­ner For­schung eine zu­sätz­li­che Ak­tua­li­tät ver­lieh. Über­ra­schen­der­wei­se konn­te ich die gän­gi­ge For­schungs­mei­nung nicht be­stä­ti­gen, dass Lang­zeit­ar­beits­lo­se aus allen so­zia­len Be­zü­gen her­aus­fal­len. Ich kam zu dem Er­geb­nis, dass die Be­trof­fe­nen zwar Kon­tak­te durch die ver­än­der­ten Le­bens­um­stän­de ver­lie­ren aber auch neue Kon­tak­te hin­zu­ge­win­nen. Na­tür­lich lei­den die Per­so­nen unter der Si­tua­ti­on. Wir leben in einer Ar­beits­ge­sell­schaft, in der Ar­beit mehr be­deu­tet als nur Geld zu ver­die­nen, son­dern zum Bei­spiel die Iden­ti­tät von Men­schen ma­ß­geb­lich prägt. Und das Image eines Ar­beits­lo­sen ist in un­se­rer Ge­sell­schaft sehr ne­ga­tiv be­setzt. Trotz al­le­dem er­lei­den diese Men­schen ihre kri­ti­sche Le­bens­si­tua­ti­on nicht ein­fach nur pas­siv, son­dern schaf­fen sich neue so­zia­le Kon­tak­te, die die Si­tua­ti­on mit­tra­gen kön­nen.

Durch die Zeit als Ta­xi­fah­rer wis­sen Sie also, wie sich Zu­kunfts­ängs­te an­füh­len.

Das Thema Un­si­cher­heit in der Ar­beits­welt ist in den letz­ten Jah­ren ge­ne­rell immer prä­sen­ter ge­wor­den. Viele Be­schäf­tig­te er­hal­ten be­fris­te­te Ver­trä­ge und wis­sen nicht, was mor­gen kommt. So ging es mir als Ta­xi­fah­rer auch. Ich hatte zwar das Ziel zu pro­mo­vie­ren, aber wuss­te nicht, ob das klappt. Zeit­gleich zu mei­ner Be­wer­bung für ein Pro­mo­ti­ons­sti­pen­di­um bei der Rosa-Lu­xem­burg-Stif­tung hatte ich mich für eine Mit­ar­bei­ter­stel­le in einem For­schungs­pro­jekt am In­sti­tut für So­zio­lo­ge der Uni­ver­si­tät Jena be­wor­ben. Ich bekam eine Zu­sa­ge für bei­des. Nach Ab­spra­che mit dem In­sti­tut konn­te ich dann mit dem Sti­pen­di­um in Jena an mei­ner Pro­mo­ti­on ar­bei­ten. Das war ein gro­ßer Vor­teil, weil ich zwar am In­sti­tut an­ge­bun­den war, mich aber voll auf die Dis­ser­ta­ti­on kon­zen­trie­ren konn­te.

Seit 2013 haben Sie als wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am So­zio­lo­gi­schen For­schungs­in­sti­tut (SOFI) Göt­tin­gen ge­ar­bei­tet. Göt­tin­gen ist Ihr Le­bens­mit­tel­punkt. Dort leben Sie mit Ihren drei Kin­dern und Ihrer Frau. Wieso sind Sie 2018 dem Ruf an die FH Kiel ge­folgt?

Vor zwei Jah­ren habe ich mich im Som­mer­se­mes­ter 2017 von mei­ner wis­sen­schaft­li­chen Ar­beit am SOFI in Göt­tin­gen frei­stel­len las­sen. Ein hal­bes Jahr habe ich als Ver­tre­tungs­pro­fes­sor für ge­sell­schafts­theo­re­ti­sche Grund­la­gen der So­zia­len Ar­beit mit Schwer­punkt auf So­zia­le Un­gleich­heit und Teil­ha­be an der Hoch­schu­le Rhein­Main in Wies­ba­den ge­lehrt. Mir ge­fiel da­mals die Ver­bin­dung von Theo­rie in die Pra­xis. Stu­die­ren­de in der So­zia­len Ar­beit wol­len immer wis­sen, was die Lehr­in­hal­te für die Pra­xis be­deu­ten. Das ist auch ein we­sent­li­cher Un­ter­schied zwi­schen Uni und FH. Bei der Uni bleibt das eher auf der abs­trak­ten Ebene. Diese Ver­tre­tungs­pro­fes­sur hat mich dann er­mu­tigt, den Weg zu gehen und mich in Kiel zu be­wer­ben. Ent­schei­dend war aber die Aus­sicht, mit der Pro­fes­sur für Armut und so­zia­le Un­gleich­heit im Kon­text der So­zia­len Ar­beit dau­er­haft an einem Thema ar­bei­ten zu kön­nen, dass mir sehr am Her­zen liegt.

Sie haben immer in der For­schung ge­ar­bei­tet. Braucht man für eine Pro­fes­sur an einer Hoch­schu­le nicht Pra­xis­er­fah­rung?

Die Be­din­gung für eine Pro­fes­sur sind fünf Jahre Be­rufs­er­fah­rung und davon drei Jahre au­ßer­halb der Hoch­schu­le ge­ar­bei­tet zu haben. Da meine Ar­beit am SOFI au­ßer­halb der Uni statt­fand, habe ich die Vor­aus­set­zung somit er­füllt.

Was ge­fällt Ihnen an Ihrer Ar­beit als Pro­fes­sor be­son­ders gut?

Ich sehe es als Pri­vi­leg, die The­men, die ich mich in­ter­es­sie­ren, wei­ter­ge­ben zu kön­nen und das nicht nur fron­tal, son­dern in­ter­ak­tiv im Aus­tausch mit den Stu­die­ren­den. Ich komme aus der Dritt­mit­tel­for­schung, wo man immer an meh­re­ren Pro­jek­ten gleich­zei­tig ar­bei­tet, weil immer neue Gel­der be­an­tragt wer­den müs­sen, um die For­schungs­ar­beit be­zie­hungs­wei­se die ei­ge­ne An­stel­lung si­cher­zu­stel­len. Als Pro­fes­sor habe ich die­sen Druck nicht und kann kon­ti­nu­ier­lich an The­men ar­bei­ten, die mir wich­tig sind.

Sie kom­men trotz­dem eher aus einem uni­ver­si­tä­rem Um­feld. Wo neh­men Sie die Un­ter­schie­den zwi­schen Fach­hoch­schu­le und Uni­ver­si­tät wahr?

Aus mei­ner Er­fah­rung her­aus gleicht der Um­gang im Kol­le­gi­um an der Uni­ver­si­tät oft einem Hai­fisch­be­cken. Die Pro­fes­so­ren an Uni­ver­si­tä­ten ver­fü­gen über einen hohen Sta­tus, den man­che auch zur Schau stel­len. Häu­fig geht es darum, her­vor­zu­he­ben, wer über die meis­ten Pu­bli­ka­tio­nen ver­fügt oder die höchst Summe an For­schungs­mit­teln ein­strei­chen konn­te. Die­sen Ha­bi­tus sehe ich an der FH gar nicht. Hier geht es mehr um Ko­ope­ra­ti­on als um Kon­kur­renz.

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