Seit über 20 Jahren haben Kinder in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Aber das Recht ist noch nicht verwirklicht. Es klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
In der Jugendhilfestatistik steigt die Anzahl der Kinderschutzfälle seit Jahren kontinuierlich. So wurden im letzten Jahr über 60.000 Kindesmisshandlungen festgestellt und zusätzlich über 66.500 Verdachtsfälle, bei denen eine Unterstützung als Dringlich eingeschätzt wurde [1].
Obwohl 85 Prozent der Eltern gewaltfreie Erziehung befürworten [2], finden auch 2020 noch über die Hälfte „einen Klaps auf den Hintern“ völlig OK, und Ohrfeigen gelten in jeder sechsten Familie als akzeptables Erziehungsmittel [3]. Gerade in Stresssituationen greifen Eltern auf das zurück, was sie selbst erlebt und gelernt haben. Das birgt die Gefahr, Gewalt, Gewalthandlungen und Gewalterleben zu bagatellisieren und zu verharmlosen. So ist die Schutzbehauptung: „Mir haben die Ohrfeigen ja auch nicht geschadet“ ein weit verbreiteter Mythos. Bagatellisierungen verkennen die immensen Folgen von Gewalt.
Jede Form von Gewalt schädigt Kinderseelen.
Sowohl physische Gewalt, wie Schläge, Tritte, Herumstoßen als auch psychische Gewalt, wie herabwürdigen, beschimpfen, verächtlich machen, missachten schädigen Kinder nachhaltig. Das Gleiche gilt für sexualisierte Gewalt und auch für Vernachlässigung, wie z.B. durch Essensentzug, unpassende Kleidung, Ignoranz usw.
Kinder, die Gewalt erleben, verlieren Vertrauen, sie können kein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen, und sie können ihre Fähigkeiten und Potentiale nicht voll entfalten. Die Traumatisierung durch Gewalt entfaltet auch immense materielle und immaterielle Folgen für die Gesellschaft.
Gewaltfreie Erziehung braucht Übung.
Hier sind nicht nur Eltern in ihrem Privatraum gefragt. Es ist immer noch nicht selbstverständlich, dass Eltern Unterstützung anfordern, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Die Erziehungsstile schwanken zwischen gewähren lassen und absoluter Strenge, so dass für Kinder Verhaltensweisen der Eltern willkürlich wirken können. Bereits eine fehlende Antwort auf die simple Kinderfrage: „Wann darf ich laut sein, wann nicht?“ kann zu Verunsicherungen führen.
Gewaltfreiheit ist eine gesellschaftliche Aufgabe.
Nur der achtsame und respektvolle Umgang mit Kindern ermöglicht die Entwicklung selbstbewusster und gesellschaftlich handlungsfähiger Persönlichkeiten.
Die gesetzliche Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung (§1631 Abs.2 BGB) und der gesetzliche Auftrag, Familien entsprechend zu unterstützen (§ 16 Abs.1 SGB VIII) bilden Meilensteine auf dem Weg zu einer gewaltfreien Erziehung. In Anbetracht der stetig steigenden Zahl von festgestellten Kindeswohlgefährdungen sollten jedoch neben den freiwilligen Unterstützungen Eltern, die Gewalt ausüben, stärker in die Verantwortung genommen werden. Wenn Eltern keine Konsequenzen auf Gewaltausübung gegenüber ihren Kindern erleben, verfestigt und zementiert dies das ohnehin bestehende Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern.
Wir müssen weg von der Bagatellisierung und Verharmlosung von Gewalt und hin zu einer Sensibilisierung. Verbindliche Trainingsprogramme wären ein möglicher Weg, Eltern in die Verantwortung zu nehmen. Es geht weder um Skandalisierung noch um Sanktionierung sondern darum Wege zu finden, verantwortungsvolles Handeln und gewaltfreie Erziehung einzuüben.
Eine Gesellschaft, in der Solidarität, Respekt im Zusammenleben und demokratische Aushandlungsprozesse immanent sind, kann nur funktionieren, wenn gewaltfreie Erziehung tatsächlich zum Standard wird.
[1] Statistisches Bundesamt (2022): Destatis: Kindeswohlgefährdungen 2020.
[2] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2003): Aktionsleitfaden. Gewaltfreie Erziehung. Berlin
[3] Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm (Hrsg.) (2020): 20 Jahre gewaltfreie Erziehung im BGB, „Aktuelle Einstellungen zu Körperstrafen und elterliches Erziehungsverhalten in Deutschland“ Ein Blick auf Veränderungen seit der parlamentarischen Entscheidung von 2000. Ulm