Der demografische Wandel führt dazu, dass der Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft stetig zunimmt. Das internationale Projekt HANC (Healthy Aging Network of Competence) möchte Seniorinnen und Senioren bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und Gesundheitssysteme entlasten – beispielsweise mit Apps, die eine Projektgruppe an der Fachhochschule Kiel entwickelt hat.
Ältere Menschen haben Ansprüche und Bedürfnisse, die sich stark von denen jüngerer unterscheiden. Diese zu erforschen und das Wissen darum zu bündeln und verfügbar zu machen, war das Ziel eines Projektes von Prof. Dr. Marco Hardiman vom Institut für Management und Marketing an der FH Kiel. Schließlich sollte eine Internetplattform entstehen, die Dienstleister, Dienstleistungen und Produkte für die ältere Generation beinhaltet. „Menschen unterschiedlicher Altersstufen würden zusammengeführt“, erklärt der 43-Jährige die Idee. „Junge Menschen könnten auf einer Börse das Erledigen schwerer Einkäufe anbieten, ältere zeitintensive Dienstleistungen wie Babysitten. So könnte sich jede Generation nach ihren Möglichkeiten einbringen und von den Kompetenzen der anderen profitieren.“
Da eine vollumfängliche Finanzierung dieses Projektes jedoch nicht möglich war, schlossen sich Hardiman und sein Team, zu dem Projektmanagerin Julia Gleser und die studentische Hilfskraft Lisa Nitzschke gehören, dem HANC an. Dieses internationale Forschungsprojekt hat eine ähnliche, aber enger fokussierte Ausrichtung und wird mit knapp einer Million Euro von der Europäischen Union gefördert. Unternehmen und Hochschulen aus Norddeutschland und Süddänemark erforschen seit 2013 gemeinsam die Bedürfnisse älterer Menschen und untersuchen, mit welchen Maßnahmen diese ihre Gesundheit möglichst lange selbsttätig erhalten können. Schnell kristallisierte sich Mobilität als ein zentrales Thema heraus: Wer sich im Alter regelmäßig bewegt und bestenfalls Sport treibt, wirkt dem körperlichen Verfall entgegen und kann länger selbstbestimmt leben. Alle Beteiligten des Forschungsnetzwerks steuerten ihre Spezialkenntnisse bei: Das Team von der Syddansk Universitet entwickelte ein speziell auf die Möglichkeiten Älterer zugeschnittenes Fitnesstraining, die Universitätsklinik Odense näherte sich dem Thema unter biomechanischen Aspekten, die Kieler Kunsthochschule entwickelte ein Fahrrad für Seniorinnen und Senioren und das Team um Prof. Dr. Hardiman machte sich an die Entwicklung von Apps, denn entgegen verbreiteter Vorurteile interessieren sich viele Ältere sehr für neue Technologien.
Zunächst ging es an der FH Kiel darum, die Zielgruppe einzugrenzen und kennenzulernen. Wer ist überhaupt alt? Julia Gleser fragte bei Kieler Organisationen wie Seniorenbeiräten oder dem Seniorentreff der Arbeiterwohlfahrt an. „Wir waren ein wenig überrascht von der großen positiven Resonanz. Viele Ältere hatten ein starkes Interesse, mit uns zusammenzuarbeiten und die Apps mitzugestalten“, erinnert sich die 26-Jährige. Allerdings zeigte sich bei den ersten Gesprächen auch, dass diese Gruppe schwer zu fassen war. „Eine Gruppierung nach dem biologischen Alter vorzunehmen, war nicht sinnvoll. Vieles beim Altern hat mit Einstellung und Fitness zu tun. Wer sich um sich selbst kümmert, kann auch im hohen Alter noch mehr leisten als andere, die zehn Jahre jünger sind und sich gehen lassen.“
Durch Fragebogen ermittelte das Team, wie groß die technische Affinität und Fachkompetenz der Älteren waren. Hier stellte sich heraus, dass Tablets bei den Rentnerinnen und Rentnern deutlich beliebter sind als Laptops oder stationäre Computer. Das hat psychologische Gründe, wie Prof. Hardiman weiß: „Die Bedienung eines Tablets erscheint ihnen einfacher als die eines Computers. Viele der Befragten äußerten die Angst, sie könnten bei der Bedienung eines Computers Fehler machen und anschließend auf Hilfe angewiesen sein.“ Auch fällt die händische Eingabe auf dem Touchscreen vielen alten Menschen leichter, da diese intuitiver erfolgt. „Einige, die in ihrem Berufsleben keinen Computer verwendet haben, klagten in den Interviews über große Probleme, die Bewegung mit der Hand an der Maus mit der Bewegung des Mauszeigers zu koordinieren – etwas, das für Jüngere eine Selbstverständlichkeit ist“, so Prof. Hardiman.
Bei der Konzeption der Apps setzte das FH-Team auf das Open-Innovation-Prinzip: In jede Entwicklungsphase sollten Rückmeldungen der Nutzerinnen und Nutzer einfließen, um zu gewährleisten, dass nicht an der Zielgruppe vorbei gearbeitet würde. Schnell zeigte sich, worauf die Befragten Wert legten: Apps sollten so einfach wie möglich zu bedienen sein. Verschachtelte Menüs mit vielen Funktionen lehnten sie ab. Vielmehr wünschten sie sich radikalen Minimalismus. „Ein Herr wünschte sich für seine Frau eine Schrittzähler-App. Die sollte lediglich zwei Knöpfe haben. Einen zum Starten, einen zum Stoppen“, erinnert sich Gleser. Auch Datenschutz und Datensicherheit waren von größter Wichtigkeit. „Fast alle lehnen eine Verzahnung von Apps ab. Wenn eine Anwendung Zugriff auf den Kalender oder das Adressbuch verlangt, wird sie meist gelöscht“, weiß Prof. Hardiman.
„Dabei gibt es durchaus gute Gründe für die Verkettung von Apps, beispielsweise, um den Trainingsfortschritt in den Kalender einzutragen oder Trainingspartner anzurufen. Doch Ältere notieren sich die Daten lieber auf einem Blatt Papier und rufen mit einem Festnetztelefon an“, ergänzt Gleser. Wer gewohnt ist, seine Laufstrecken mit dem Smartphone aufzuzeichnen und diese in sozialen Netzwerken mit anderen zu teilen, ist zunächst irritiert über den anderen Anspruch der Älteren. „Sie wünschen ausdrücklich keine Dokumentation, beispielsweise darüber, wie viele Schritte sie zurückgelegt haben“, erklärt die 24-jährige Lisa Nitzschke. Doch auch für diesen scheinbar schrulligen Anspruch hat das HANC-Team eine Erklärung gefunden: Viele Ältere hätten vermutlich Angst davor, körperlich abzubauen. Wenn sie in einer App ablesen könnten, dass ihre sportliche Leistung sinkt, sei das für viele niederschmetternd und keinesfalls ein Ansporn.
Im Laufe von zwei Jahren HANC hat Prof. Hardiman die Ansprüche der Älteren verstehen gelernt und zeigt Verständnis für ihre Verhaltensweisen: „Sie haben in ihrem langen Leben zahlreiche Erfahrungen gemacht; darunter auch schlechte, zum Beispiel bei In-App-Käufen oder beim Abschließen von Abonnements. Einige haben durch eine Arglosigkeit oder einen Fehler viel verloren und fürchten nun, mit einem falschen Klick in eine Kostenfalle zu tappen. Im Alter werden sie vorsichtig und wollen keine Risiken mehr eingehen, auch wenn das bedeutet, auf Komfort zu verzichten. Sicherheit geht im Alter einfach vor.“ Diese Einstellung fordert ein Umdenken bei der App-Entwicklung. Statt automatisch per GPS-Signal die Position der Personen zu bestimmen, muss höflich um die Eingabe der weit ungenaueren Postleitzahl gebeten werden, um beispielsweise Sportmöglichkeiten in der Umgebung zu finden.
Schließlich stehen die Sicherheitsbedenken der Zielgruppe bisweilen ihren Ansprüchen sogar im Weg. Viele Ältere wünschten sich eine Partnerin oder einen Partner, mit der oder dem sie gemeinsam Sport treiben und sich gegenseitig motivieren können. Ein solches Netzwerk könne aber nicht entstehen, wenn alle auf ihrer Anonymität bestünden, erklärt Prof. Hardiman. Statt virtueller Netzwerke habe nach wie vor der persönliche Kontakt bei älteren Menschen die größte Bedeutung. Doch diese Einstellung habe auch Vorteile, denn wer einmal keine Lust auf ein verabredetes Treffen hat und nicht per E-Mail oder Statusnachricht absagen kann, geht am Ende dann doch aus dem Haus, um andere nicht vor den Kopf zu stoßen.
Prof. Hardimans Team entwickelte zunächst zehn Produktkonzepte, im weiteren Open-Innovation-Prozess setzte es dann die besten drei Ideen um. Schon vor dem Auslaufen des HANC-Projekts im Sommer 2015 sind drei App-Prototypen fertig: Alle haben große Schaltflächen und eine so einfache Struktur, dass es noch nicht einmal möglich ist, sie absichtlich falsch zu bedienen. So müssen die Seniorinnen und Senioren niemanden um Hilfe bitten.
Eine Planungs-App filtert aus einer Datenbank Sportangebote für ihre Generation in der Umgebung ab und gibt diese samt Ansprechpartner aus. Eine Navigations-App berechnet eine Route und weist auf Gegebenheiten hin, die Hindernisse für Ältere darstellen können, zum Beispiel Sandwege, die mit dem Rollator nicht passierbar sind. Zudem verzeichnet die App Bänke und andere Rastmöglichkeiten. Schließlich hat das Kieler Team eine Trainings-App entwickelt, die Sportübungen für drinnen und draußen enthält und Hinweise zur Durchführung bietet. Parallel hat das Team von der Syddansk Universitet Sportübungen ausgearbeitet, die in die Kieler App integriert werden könnten. Eine Testgruppe dänischer Rentnerinnen und Rentner vermeldete bereits nach zwölf Wochen Training ein gesteigertes Wohlbefinden und eine bessere Kondition. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich die unterschiedlichen Partner im HANC-Netzwerk ergänzen.
Noch bevor HANC im Sommer 2015 offiziell abgeschlossen ist, macht sich Prof. Hardiman Gedanken über eine Fortsetzung des Projekts: „Wir würden uns sehr freuen, wenn wir bei einem HANC 2 dabei sein und unsere Prototypen weiter entwickeln könnten.“ Um eines muss sich das Kieler Team indes keine Sorgen machen: Der demografische Wandel sorgt dafür, dass die Zielgruppe stetig wächst. Vielleicht haben die kommenden Alten weniger Vorbehalte und mehr Lust auf Vernetzung.
von Joachim Kläschen