Wenn sie an die Kindheit und Jugend in ihrer syrischen Heimatstadt al-Hasaka im Nord-Osten des Landes zurückdenkt, hat Bushra Hasan schöne Erinnerungen. „Es war eine mittelgroße Stadt, wir haben auf der Straße gespielt und ich habe mich mit Freunden getroffen. An meiner Schule habe ich sogar sieben Jahre im Basketball-Team gespielt“, erzählt die junge Frau mit den langen schwarzen Locken. Doch mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 kippte auch in der Stadt mit seinen 180.000 Einwohner*innen die Stimmung.
Trotz der widrigen Umstände hielt Bushra an ihrem Traum fest und begann 2013 ein Anglistik-Studium in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Hier zeigten sich Auswirkungen des Bürgerkriegs noch drastischer. „Eines Tages“, erinnert sie sich, „musste ich an einem öffentlichen Platz mitansehen, wie eine junge um ihr Leben schreiende Frau von den ISIS-Milizen an den Haaren in einen Kleinbus gezerrt und verschleppt wurde. Die Menschen haben das fassungslos und angsterfüllt verfolgt, weil keiner der nächste sein wollte, der so verschwindet.“
In den Semesterferien fuhr Bushra mit dem Bus acht Stunden in ihren Heimatort, um ihre Eltern zu besuchen. Auch dort war die Situation mittlerweile eskaliert, die Versorgung mit Strom und Wasser abgerissen. So groß die Freude über ihre Besuche war, sorgten sich ihr Vater und ihr Verlobter um sie. Vor allem, dass Bushra allein die aufgrund der zerstörten Straßen immer länger andauernden Busfahrten unternahm, machte ihnen Sorgen. Doch die junge Frau hielt weiter an ihrem Traum fest, eines Tages als Dozentin an der Universität englische Literatur zu unterrichten.
Auf einer 20-stündigen Rückfahrt von al-Hasaka nach Damaskus ereignete sich ein Vorfall, der ihr Leben für immer veränderte. „Als wir durch ein von ISIS besetztes Gebiet fuhren, stoppten Milizen den Bus. Männer stiegen ein und verhörten die Reisenden. Zum Glück hatte der Busfahrer mir ein Tuch gegeben, mit dem ich mich schnell verschleiern konnte. Sie fragten mich, ob ich eine Studentin sei und ich schüttelte nur ängstlich den Kopf.“ Bushra Hasan hatte Glück an diesem Tag, denn man glaubte ihr. Dennoch musste sie mit ansehen, wie mitreisende junge Frauen und Männer aus dem Bus geführt und mit den Milizionären zurückbleiben mussten.
Als Bushra von dem Vorfall erzählte, war für ihren Verlobten endgültig klar, dass sie sich in Syrien keine Zukunft aufbauen könnten. Da es für sie keine Möglichkeiten mehr gab, legal das Land zu verlassen, entschied er sich zu Flucht – mit dem Ziel Bushra nachzuholen, sobald er in Sicherheit war. „Es hat zehn Versuche gebraucht, bis meinem Verlobten die Flucht gelangt“, erinnert sich Bushra. „Ich war so erleichtert, als er mich schließlich nach einem Monat ohne Kontakt im November 2014 aus München anrief. Unser Plan war es, dass er sich zu meinem Bruder durchschlägt, der 2013 zum Studium nach Kiel gekommen war.“
Da an eine Fortsetzung ihres Studiums nicht mehr zu denken war, nutzte Bushra die Zeit in ihrer Heimatstadt, um sich ehrenamtlich zu engagieren, Kinder zu betreuen und Englisch-Unterricht zu geben. „Eigentlich wollte ich mich auf meine Zukunft in Deutschland vorbereiten und die Sprache lernen. Doch durch die Zerstörung gab es keine Möglichkeit. Anderen zu helfen war daher die sinnvollste Möglichkeit, mich zu beschäftigen“, erinnert sich die junge Frau. Doch durch die Bestätigung fand sie schließlich großen Gefallen an ihrem ehrenamtlichen Engagement.
Im Rahmen der Familienzusammenführung durfte Bushra im Februar 2016 nach Deutschland einreisen. Nach zwei Jahren konnte sie ihren Verlobten wiedersehen und sich mit ihm eine neue Existenz aufbauen. „Am zweiten Tag in Deutschland habe ich angefangen, mich um einen Sprachkurs zu bemühen“, erinnert sich Bushra, „aber es gab nur Absagen. Der nächste Kurs wurde mir für den Oktober des Jahres in Aussicht gestellt.“ Um keine Zeit zu verlieren, lernte sie die Grundlagen der Sprache mit Hilfe von YouTube-Videos. „Als der Sprachkurs endlich losging, hatte ich die Grammatik schon weitgehend verstanden, aber meine Aussprache war noch immer nicht gut genug. Dennoch hat mir diese Vorbereitung sehr geholfen“, blickt Bushra zurück.
In den Sprach- und Integrationskursen, die sie besucht, lernt Bushra junge Frauen kennen, die wie sie aus der syrischen Heimat geflüchtet sind. „Wir haben uns viel miteinander unterhalten und dabei festgestellt, dass fehlende Sprachkenntnisse viele daran hinderten, hier Fuß zu fassen. Ich habe mich dann immer bemüht, als Dolmetscherin zu helfen“, erzählt Bushra. „Ich habe die Frauen dann zu Behörden begleitet, beim Ausfüllen von Formularen geholfen und ihnen sogar Zimmer in Wohngemeinschaften vermittelt. Ein deutscher Satz, den ich von den Frauen häufiger gehört habe war ‚Bushra, kannst Du bitte mal…‘“, lacht sie. „Aber ich habe das immer gerne getan.“
Der Dank und die Anerkennung, die sie für ihr Engagement erfährt, lassen Bushra über ihre berufliche Zukunft in Deutschland nachdenken: „Anstatt eine akademische Laufbahn zu verfolgen, wollte ich beruflich lieber etwas machen, bei dem ich anderen Menschen helfen kann. Nach einem Beratungsgespräch am International Center der CAU habe ich mich dann entschlossen, dass ein Pädagogik-Studium der richtige Weg sei.“
Mit diesem Ziel fokussiert sich Bushra darauf, die letzten Hürden aus dem Weg zu räumen. Sie lässt ihren Schulabschluss aus Syrien vom Bildungsministerium anerkennen; ein wichtiger Schritt in Richtung Hochschulzugangsberechtigung. Sie absolviert von der Agentur für Arbeit verordnete Maßnahmen und büffelt für Sprachprüfungen und den Einbürgerungstest. All das während sie sich um ihre mittlerweile vier Jahre alte Tochter kümmert, die sie im Juni 2017 zur Welt brachte.
„Es war nicht immer leicht, das Lernen und die Familie miteinander zu vereinbaren. Aber ich hatte mein Ziel fest vor Augen und mein Mann hat mich auf meinem Weg unterstützt“, erklärt Bushra. „Weil ich mich früh um einen Krippenplatz gekümmert habe, konnte ich mich jeden Tag von 8 bis 12 Uhr auf das Lernen fokussieren. Ich habe mich nicht ablenken lassen, Prioritäten gesetzt und sehr strukturiert gearbeitet, sonst hätte ich das nicht geschafft.“ Im Juni 2020 ist der Weg schließlich frei: Bushra hat die für das Studium erforderlichen Sprachprüfungen erfolgreich bestanden. Nebenbei hat sie den Führerschein gemacht, zieht ihre Tochter groß und hilft Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern, in Deutschland Fuß zu fassen.
„Zur Sicherheit hatte ich mich an der CAU und an der FH Kiel beworben“, erinnert sich Bushra. „Ich war überglücklich, als ich dann im September 2020 die Nachricht bekommen habe, dass ich an der FH ‚Soziale Arbeit‘ studieren kann. Der Studienstart in der Corona-Zeit war allerdings anstrengend und ich bin sehr froh, dass die Lehre jetzt wieder in Präsenz stattfindet“, zieht die junge Frau eine erste Bilanz. „Ich habe in den letzten Wochen viele neue Leute kennengelernt und der Austausch mit anderen sorgt dafür, dass mein Deutsch immer besser wird. Worte und Redewendungen, die ich noch nicht kenne, schreibe ich mir auf und lerne sie.“
Bushra Hasan ist glücklich, dass in Kiel ihr Traum von einem Studium endlich in Erfüllung gegangen ist: „Ich fühle mich sehr wohl hier, und bin dankbar, dass ich in Deutschland mit meiner Familie eine Perspektive erhalten habe. Mittlerweile sehe ich Deutschland auch als meine Heimat und schätze vor allem, wie sicher es hier ist und dass jeder seine Meinung frei äußern kann. Ich weiß aus Syrien, das beides nicht selbstverständlich und kostbar ist.“
Zum Hintergrund: Im November 2021 studieren an der FH Kiel 485 Bildungsausländer*innen, davon haben etwa 140 einen Fluchthintergrund. Die größten Gruppen der Bildungsausländer*innen stellen Studierende aus Syrien (74 Studierende), Marokko (50 Studierende), Indien (40 Studierende) sowie China (39 Studierende) und Iran (30 Studierende) dar. Die meisten Studierenden mit Fluchthintergrund studieren an den Fachbereichen Informatik und Elektrotechnik sowie Wirtschaft. Die erste Anlaufstelle für junge Menschen mit Fluchthintergrund, die ein Studium an der FH Kiel beginnen ist das International Office. Gerne berät das Team Interessierte und zeigt ihnen Möglichkeiten auf, ein Studium in Deutschland zu beginnen.