Eine Untersuchung zur Wirksamkeit eines interdisziplinären Frühe-Hilfen-Modells für belastete Familien
Kindererziehung liegt Eltern im Blut, heißt es häufig. Doch manchmal ist dies nicht der Fall, wie die Praxis zeigt: Mütter und Väter, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind, haben oft Schwierigkeiten, ihre Kinder liebevoll anzunehmen und in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Ein interdisziplinäres Team nahm sich dieses Problems im Rahmen des Projektes „Gaarden 1-2-3“ an und unterstützte gezielt betroffene Frauen dabei, eine tragfähige und entwicklungsfördernde Beziehung zum eigenen Kind auf- und auszubauen. Prof. Dr. Ariane Schorn vom Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit begleitete das Projekt und untersuchte, ob es tatsächlich gelang, die Qualität der Mutter-Kind-Interaktion sowie den Gesundheits- und Entwicklungszustand der Kinder zu verbessern.
„Wenn das Kind aus dem Kinderwagen aussteigt und selbstständiger wird, folgt oft eine Zeit, in der Mütter überfordert sind“, weiß Dr. Angelika Hergeröder, Leiterin des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes des Kieler Gesundheitsamtes. Im ersten Lebensjahr ihres Kindes wenden sich viele Paare an die dort angesiedelte Elternberatung, um beispielsweise Ratschläge bei Schlafstörungen des Kindes oder Ernährungsfragen zu erhalten. Sobald das Alter der Kinder ein Jahr überschreitet, nimmt die Inanspruchnahme des Angebots jedoch erfahrungsgemäß ab. So klafft bis zum Kindergarteneintritt mit drei Jahren oft eine Lücke. „Daher kam mir die Idee, eine Gruppe aus Müttern, die in verschiedener Hinsicht belastet sind, und Kindern in diesem Alter ins Leben zu rufen und diese einige Zeit zu begleiten“, erzählt Dr. Hergeröder. Doch bevor im Januar 2012 das Frühe-Hilfen-Angebot „Gaarden 1-2-3“ starten konnte, mussten die Ärztin und ihr Team einige organisatorische Hürden nehmen. Die Stadt Kiel übernahm die Kosten für Vorbereitungsarbeiten und stellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Verfügung, weiterhin finanzierte das Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein das Projekt.
Im Kieler Stadtteil Gaarden, in dem das Projekt angesiedelt war, lebt ein hoher Anteil an Alleinerziehenden und Familien mit Migrationsbiografie. Die Mitarbeiterinnen der Elternberatung vor Ort sowie das Jugendamt machten Frauen, die über Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern berichteten, auf das Projekt aufmerksam. So trafen sich schließlich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren 13 Mütter mit ihren Kindern zweimal in der Woche in der Elternberatungsstelle Gaarden. Um eine Verbindlichkeit zu schaffen, verpflichteten sich die Mütter zu einer regelmäßigen Teilnahme an der Gruppe. Ein Dreierteam aus einem Heilpädagogen bzw. im späteren Verlauf einer Heilpädagogin, einer Psychologin und einer Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin betreute den Kreis.
Die Treffen verliefen nach einem bestimmten Muster: Nach einem Begrüßungsritual hatten alle Frauen Gelegenheit, etwas zu ihrer Situation zu sagen und ihre Fragen mit dem Fachteam zu besprechen. In der nachfolgenden offenen Spielzeit stand die Stärkung der Mutter-Kind-Beziehung im Mittelpunkt. Zum Angebot gehörten ferner auch heilpädagogische Kurseinheiten. Zusätzlich zur festen zweistündigen Gruppenzeit konnten die Mütter Einzelgespräche mit der Psychologin oder der Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin führen und – über die Vorsorgeuntersuchungen hinaus – mit der Kinder- und Jugendärztin der Elternberatung Gaarden, Dr. Susanne Hefermann, in Kontakt treten.
Ziel des Projektes war es, sowohl die Mütter als auch die Kinder und die Beziehung zwischen beiden zu stärken. „Die Mütter lernten, feinfühliger mit ihren Kindern umzugehen, verdeutlicht Prof. Dr. Ariane Schorn von der FH Kiel, „es ging darum, die Kleinkinder in ihrer körperlichen, emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung zu unterstützen und somit auch ihre Bildungschancen zu erhöhen.“ Hierbei sei die bindungsorientierte Stärkung der elterlichen Kompetenz ein zentraler Schlüssel.
Zu Beginn führten Dr. Susanne Hefermann und Lidija Baumann, die Psychologin des Projektes, mit den Frauen ein ausführliches Anamnesegespräch, in dem sie unter anderem die familiäre Situation sowie Belastungen erfassten. Außerdem nahmen sie in einer Eingangsdiagnostik die Gesundheit und den Entwicklungsstand der Kinder in Augenschein. Mit beunruhigendem Ergebnis: Die Mehrzahl wies Entwicklungsdefizite auf. Im Laufe der ersten Gruppentermine wurde versucht, die Mutter-Kind-Interaktion einzuschätzen. „Die Mütter fühlten sich oft überfordert“, erinnert sich Prof. Schorn, die das gesamte Projekt wissenschaftlich begleitet hat. „Sie litten darunter, dass ihre Kinder viel weinten, schlecht schliefen, Probleme beim Essen machten und bei vielen Gelegenheiten mit Schrei- und Wutanfällen reagierten.“ Die Kinder wiederum fanden häufig nicht genug Trost und Schutz.
Die Aufgabe der Fachkräfte bestand zum Beispiel darin, Fragen aufzugreifen und zu klären. „Wie gebe ich ein Zäpfchen? Oder wie ziehe ich mein Kind bei Fieber an?“, nennt Dr. Hergeröder Beispiele aus dem medizinischen Bereich. Ein wichtiges Anliegen war außerdem, den Müttern und Kindern positive Interaktionserfahrungen zu ermöglichen. Haben beide Freude miteinander, festigt dies die Beziehung und verstärkt den Kreislauf positiver Gegenseitigkeit. „Für mich war etwas ganz Entscheidendes, dass sich die Familien innerhalb dieser Gruppe viel abgeguckt haben“, sagte eine Fachkraft. „Deutlich wurde ebenfalls, dass die Familien zu uns auch eine Bindung und ein großes Vertrauensverhältnis aufbauten, daher sehr genau beobachteten, was wir machten und sich fragten: ‚Mensch, das tut meinem Kind gut – wie machen die das eigentlich?‘“ Das Team bemühte sich, den Müttern einen Zugang zum kindlichen Erleben zu eröffnen und so die Perspektive eines Kindes einzunehmen. Dabei kam dem „Trialog“ eine wichtige Bedeutung zu. „Denn es reicht ja nicht nur, den Eltern alles vorzumachen, sondern man muss ihnen gleichzeitig auch noch verbalisieren, was denn gerade passiert, immer auf beide Ebenen springen und versuchen, so eine Brücke zwischen beiden zu bauen: Blickkontakt mit dem Kind, dann aber den Eltern erklären, was gerade passiert.“
Manche Mütter waren aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen zu Projektbeginn ausgesprochen ängstlich und unsicher. Daher fiel es ihnen schwer, ihre Kinder dabei zu unterstützen, etwas auszuprobieren. „Eine Mutter beispielweise traute sich bei einem Ausflug zum Spielplatz nicht, mit ihrem Kind zusammen zu rutschen“, sagt Kinderärztin Hergeröder. „Sie meinte, sie selbst habe das noch nie gemacht und ihr Kind wolle das auch nicht. Durch behutsames Zureden und ohne die Mutter zu beschämen, konnten die Fachkräfte beide ermuntern, die Rutsche auszuprobieren.“ Auch in anderen Situationen hatte diese Mutter Angst, ihr Kind könne sich schmutzig machen oder verletzen. „Im Rahmen der Gruppe lernte sie jedoch, ihre Ängste zu reduzieren. Inzwischen besucht ihr Kind einen Waldkindergarten, und auch bei der Erziehung ihres zweiten Kindes profitiert sie von ihren neuen Erfahrungen“, freut sich die Kinderärztin über die Veränderung.
Gewinnbringend war für die Frauen, die vorher häufig unter Isolation gelitten hatten, auch die Vernetzung untereinander. „Wenn alle anderen auch erzählen, dann weiß ich, nicht nur ich habe dieses Problem“, sagte eine Mutter erleichtert. „Die Mütter haben sich sehr positiv zu dem Angebot geäußert und waren sehr traurig, als es abgeschlossen war“, erzählt Prof. Schorn. „Sie waren sehr dankbar für die Hilfe.“ „Das Angebot ist total toll“, sagte eine Mutter. „Das komplette Angebot, mit Fragen, Spezialisten, die einfach da sind.“ Auch die Kinder hatten sich laut Aussagen ihrer Mütter in der Gruppe wohlgefühlt. Einige der Frauen, die bereits Erfahrungen in anderen Gruppen gesammelt hatten, empfanden diese als etwas Besonderes: „Ich habe auch schon vorher ein Elterncafé besucht (…) und da waren Mütter meistens, die hatten nie Probleme und die waren alle wunderbar und heile Welt. Aber hier sind die Frauen offener über die Probleme zu sagen, dass da etwas nicht klappt.“ Auch die kompetente Beratung, das Einfühlungsvermögen der Fachkräfte und die Möglichkeit, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufzubauen, lobten die Frauen in den Befragungen vielfach: „Wir vertrauen den Leuten hier“ hieß es, oder: „Und mit den beiden Frauen kann ich über alles reden.“
Der Erfolg des Projekts zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Auswertung: „Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Kernziele bei der Mehrzahl der Mütter und Kinder erreicht werden konnten“, resümiert Prof. Schorn. Zehn der 13 Mütter seien sicherer und kompetenter im Umgang mit ihren Kindern geworden – der Entwicklungsverlauf ihrer Kinder weise in eine positive Richtung. „Ohne entsprechende Unterstützung wäre perspektivisch eine weitere Verschlechterung der Mutter-Kind-Beziehungen sowie der gesundheitlichen und entwicklungsbezogenen Situationen dieser Kinder zu erwarten gewesen.“
Die Professorin hat festgestellt: „Die Mütter fühlten sich sicherer, waren stolz auf ihre Fortschritte und sahen auch ihr Kind mit freundlicheren Augen.“ Am Ende des Projekts erkannten sie die Bedürfnisse ihres Nachwuchses wesentlich besser. „Während die Kinder vorher oft einfach das Fläschchen bekamen, wenn sie weinten, wurden sie nun zum Beispiel eher in den Arm genommen, wenn Trost nötig war“, erzählt auch Dr. Hergeröder. „Also, ich kann jetzt viel besser verstehen, was sie von mir will“, bestätigte eine Mutter diesen Eindruck in einem Interview. „Meine Tochter ist ein sehr anstrengendes Kind, braucht viel Aufmerksamkeit. Da kann ich manche Sachen jetzt einfach besser einordnen.“ Und auch die Kinder profitierten von dem Angebot, wie die Beobachtungsdaten, aber auch die besseren Ergebnisse in den einzelnen Entwicklungsbereichen zeigten. Sie suchten aktiv Trost, wenn sie belastet waren, erforschten aktiver ihre Umgebung und lernten mit anderen Kindern zu spielen. „Mein Sohn hat am Anfang gebissen immer und hat alles geworfen (…)“, sagte eine Mutter. „Jetzt kann er mit den anderen spielen.“ Manche Mütter erlebten ihre Kinder als selbstbewusster: „Als wir neu waren, zum Beispiel, sie hatte ein Spielzeug, die Kinder haben immer geholt und sie hat gar nichts gesagt. Jetzt kann sie auch ‚nein‘ sagen“, so die Erfahrung einer Gruppenteilnehmerin. Auch in sprachlicher Hinsicht haben die Kinder Fortschritte gemacht: „Damals hat er nicht so viel geredet und jetzt redet er ohne Punkt und Komma und hat auch so viele Wörter neu gelernt“, freute sich eine andere.
„Die meisten Mütter waren für ihre Kinder viel mehr als zuvor zu einem sicheren Hafen geworden“, bilanziert Prof. Schorn. „Sie konnten ihre Kinder besser darin unterstützen, die Welt zu erkunden und vermochten wahrzunehmen, was ihr Kind brauchte. Sie wurden selbstsicherer, zeigten sich im Kontakt mit ihrem Kind kompetenter und weniger ängstlich oder auch weniger distanziert, wovon die Kinder deutlich profitierten.“ Bei dreien war eine solche Verbesserung allerdings nicht festzustellen. Dafür kommen verschiedene Gründe in Betracht, so die Professorin: „Sie nahmen vergleichsweise unregelmäßig an der Gruppe teil bzw. kamen erst zu einem späten Zeitpunkt dazu. Außerdem überschatteten zunehmende Partnerprobleme sowie in einem Fall eine schwere Kriegstraumatisierung die Mutter-Kind-Beziehung. Leider lehnte die betroffene Mutter eine therapeutische Unterstützung ab.“
Fasst Prof. Schorn zusammen, was gerade „Gaarden 1-2-3“ so interessant und erfolgreich macht, ist es das Zusammenspiel mehrerer für das Projekt charakteristischer Aspekte: die Interdisziplinarität des Teams, ihre besondere Fachlichkeit, das bindungsorientierte Arbeiten, die Kombination von Einzelarbeit und Gruppensetting wie auch der Umstand, dass in das Projekt männliche und weibliche Fachkräfte eingebunden waren. Als sinnvoll erachtet die Professorin zukünftig eine Anbindung solcher Angebote zum Beispiel an Familienzentren oder Kindertagesstätten, da diese auch die Möglichkeit bieten, Familien über einen längeren Zeitraum zu begleiten.
Die Ergebnisse des Modellprojektes „Gaarden 1-2-3“ sollen demnächst im Sozialausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtags vorgestellt werden. „Zwar kosten Gruppenangebote dieser Art mehr Geld, doch dieses Geld ist gut investiert, da sie dazu beitragen, Familien so zu stärken, dass diese ihren Kindern hinreichend gute Entwicklungsmöglichkeiten bieten“, gibt die Professorin zu bedenken.
Während der Projektlaufzeit hat die Stadt Kiel immer mehr Krippenplätze eingerichtet. Trotzdem seien Gruppen nach dem Modell von „Gaarden 1-2-3“ keineswegs überflüssig, ist sich das Projektteam einig. „In den Krippen kommen die Eltern nur eingeschränkt miteinander in Kontakt“, begründet Dr. Hergeröder ihre Meinung. Und Prof. Schorn ergänzt: „Da die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ganz entscheidend für das Wohlergehen des Kindes ist, muss es eben auch darum gehen, die elterliche Be- und Erziehungskompetenz zu stärken.“ Sie hält fest, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung keine Aussagen über die längerfristige Wirkung des Projektes liefern konnten. Doch die Entwicklungsforschung mache deutlich, wie wichtig der Einfluss der ersten Lebensjahre für die weitere Entwicklung von Kindern sei. Ihr Fazit: „Dies ist ein sehr gelungenes Projekt, wenn auch kein Allheilmittel.“
von Annette Göder