Eine Frau posiert Nahe der Schwentine und lächelt freundlich in die Kamera.© L. Berndt

„Fremd- oder Andersheit sollte Normalität in unserer Gesellschaft werden“

von Laura Berndt

Als Ayça Polat 1979 ihre Heimat Istanbul verlässt, ist sie sieben Jahre alt. Zusammen mit ihrer Mutter reist sie nach Hamburg, dem Vater hinterher, der bereits zuvor als türkischer Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war. Hier wächst das junge Mädchen, das zur zweiten Einwanderungsgeneration gehört, auf und erlebt nicht nur Akzeptanz, sondern auch Formen von Diskriminierung. Die Erfahrungen, die Ayça Polat sammelt, ebnen ihren Weg. Nach dem Abitur studiert sie „Interkulturelle Pädagogik und Beratung“ sowie „Sozialwissenschaften“ in Oldenburg und arbeitet später sieben Jahre als Integrationsbeauftragte der Stadt. Seit Anfang März dieses Jahres lehrt die heute 43-jährige Professorin „Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Interkulturalität“ am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Kiel (FH Kiel).

Laura Berndt (LB): Warum haben Sie sich für Ihr Studium entschieden?

Ayça Polat (AP): Als Einwandererkind habe ich – sowohl in meiner eigenen Familie als auch in meinem familiären und sozialen Umfeld – schon von klein auf an miterlebt, dass Menschen mit Migrationshintergrund in dieser Gesellschaft nicht immer die gleichen Chancen und Möglichkeiten haben wie Deutsche. Bis heute gibt es eine große Diskrepanz in puncto Bildungsniveau, die mit Unterschieden im Einkommen, Lebensstandard, gesellschaftlichen Ansehen und der sozialen Sicherheit einhergeht. Darüber hinaus haben meine Eltern und ich auch klare Fälle von Ablehnung und Diskriminierung erlebt. Diese Erfahrungen haben mich als junger Mensch geprägt und in meinem Ehrgeiz bestärkt, etwas dafür zu tun, dass Minderheiten eine Chance auf gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Teilhabe haben und als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft anerkannt werden. Abgesehen davon, dass ich mich früh mit diesen Themen auseinandersetzen musste und wollte, hatte ich schon immer eine soziale Ader und das Bedürfnis, mich für andere Menschen einzusetzen – das ist bei mir eben stark ausgeprägt. Während meiner Schulzeit habe ich mich unter anderem aktiv für jüngere Mädchen mit Migrationshintergrund eingesetzt und sie darin bestärkt, sich mehr zuzutrauen und einen Schulabschluss zu machen. Mir war schon früh bewusst, dass ich später einmal einen sozialen Beruf ausüben würde.

LB: Wie sahen Ihre ersten Praxiserfahrungen nach dem Studium aus?

AP: Nach Abschluss meines Studiums habe ich in einem Forschungsprojekt zum Thema Migrations- und Integrationsverläufe von Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation promoviert. Danach bot sich mir die Gelegenheit ein Fellowship am Centre for Ethnic, Immigration and Pluralism Studies der Universität Toronto zu absolvieren. Das, was ich im Bereich der Stadt- und Migrationssoziologie auf Theorieebene bis dato erarbeiten konnte, konnte ich in Kanada in der Praxis erleben – eine Erfahrung, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Seit 1985 ist der Multikulturalismus in der kanadischen Verfassung fest verankert und gilt als unschätzbare Ressource für die Zukunft des Landes. Aus diesem Grund wird das kulturelle Erbe jeder Bevölkerungsgruppe respektiert, bewahrt und gefördert. Toronto ist als ethnische Mosaikstadt das beste Beispiel für gelebte Diversität. Zur Integrationspolitik gehören dort unter anderem die gezielte Beschäftigung von Minderheiten im öffentlichen Dienst und die Tatsache, dass jeder Einwohnerin und jedem Einwohner – unabhängig von der Herkunft – die Teilhabe am und der Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ermöglicht wird. Dass Multikulturalismus funktionieren kann, habe ich dort miterlebt – eine tolle Erfahrung.

LB: Wie verhält es sich mit der gelebten Interkulturalität in Deutschland?

AP: Der Kurs eines Landes steht und fällt immer mit den Signalen, die politische Entscheidungsträgerinnen und -träger setzen. Deutschland versteht sich erst seit der Einführung des Zuwanderungsgesetzes 2005 als Einwanderungsland, obwohl es das faktisch schon längst war – spätestens seit der Arbeitsmigration aus Südeuropa ab Mitte der 50er-Jahre. Die vehemente, jahrelange Ablehnungshaltung politisch Verantwortlicher ist nicht spurlos an der deutschen Bevölkerung vorbei gegangen. Sie hat die Offenheit für das Fremde stark negativ beeinflusst – nicht nur auf Seiten der rechten Szene, sondern auch in der Mittelschicht – und die Akzeptanz von ethnischen Minderheiten damit erschwert. In puncto gelebtem Multikulturalismus hinkt Deutschland im Vergleich zu Kanada weit hinterher. Trotz konkreter Integrationsangebote befinden wir uns nach zehn Jahren erst in der Anfangsphase einer wirklich gelungenen Einwanderungspolitik.

LB: Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern?

AP: Erfolgreiche Integration und gelebte ethnische Vielfalt können erst dann gelingen, wenn sich auch das Einbürgerungsgesetz verändert. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern hat Deutschland einen hohen Anteil an Menschen, die bereits lange hier leben, aber bis heute keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Dabei ändert sich durch ihr Erlangen nicht nur der rechtliche Status der Menschen, sondern vor allem ihr Selbstverständnis. Das Gefühl als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft wahrgenommen und akzeptiert zu werden, fördert die Integrationsbereitschaft. Wir müssen weg davon, die Menschen möglichst lange hinzuhalten und stattdessen schnellere Entscheidungen treffen. Das gilt auch für die Flüchtlings- und Asylpolitik. Gewissheit und Perspektiven müssen nach spätestens drei Monaten gegeben sein. Außerdem sollte der kostenlose Besuch von Sprachkursen für alle möglich sein. Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass politische Institutionen und Bildungseinrichtungen, eben alle, die eine Sozialisationsfunktion haben, Menschen möglichst früh – idealerweise bereits im Kindesalter – vermitteln, dass Fremd- oder Andersheit in unserer Gesellschaft Normalität und nicht mit Ängsten behaftet sein sollte. Auch wir als Hochschule müssen diesen Gedanken an die zukünftigen Fachkräfte weitergeben. Nur so haben wir die Chance, dauerhaft etwas in den Köpfen zu verändern und der Ablehnungshaltung der vergangenen Jahrzehnte entgegenzuwirken.

LB: Wie setzen Sie das in Ihrer Lehre um?

AP: Soziale Arbeit setzt an den Kompetenzen der Menschen an und verhilft ihnen zur Selbstwirksamkeit. Daher möchte ich die Studierenden für die besonderen Bedarfe und Probleme von bestimmten Minderheitengruppen sensibilisieren und ihnen Wege dazu aufzeigen, wie sie Zugänge zu diesen finden und sie in ihrer Selbstwirksamkeit stärken können. Angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten in der Lage sein, Menschen – unabhängig von Differenzmerkmalen – Wege zu gesellschaftlicher Teilhabe aufzuzeigen, damit sie das erreichen können, was sie für sich wünschen. Andererseits haben sie auch die Aufgabe, dazu beizutragen, dass die Vielfalt als Normalität im Alltag und als Potential und wichtige Ressource für die gesellschaftliche Entwicklung gesehen wird. Daher möchte ich ihre Neugierde dafür wecken, dass sich Lebenswelten im stetigen Wandel befinden und die Pluralität nicht nur durch Migration geprägt ist, sondern auch durch andere Merkmale, wie zum Beispiel Alter, Religiosität, sexuelle Orientierung oder das Geschlecht. Ich wünsche mir für die Studierenden, dass sie in der Lage sind mit den Ambivalenzen und Unterschieden, die gesellschaftliche Vielfalt erzeugt, umzugehen, sie auszuhalten und keine Vorbewertung vorzunehmen.

Kurzbiographie    

 

seit März 2015: Professur für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Interkulturalität an der Fachhochschule Kiel  
2008 - Februar 2015: Integrationsbeauftragte der Stadt Oldenburg   
1999 - 2008: Wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. Lehrkraft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg   
2005: Promotion in Sozialwissenschaften und Fellowship am Centre for Ethnic, Immigration and Pluralism Studies, Universität Toronto   
1992 - 1999: Doppelstudium (Diplom) an der Universität Oldenburg, Fachrichtungen: Interkulturelle Pädagogik und Beratung sowie Sozialwissenschaften

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