Kieler Geschichte(n) im Mediendom: „Flucht – Ein 360° Theaterstück“
und multimediales Kaleidoskop zum Verlust oder Gewinn von Heimat…
Medien, die fiktional oder dokumentarisch Geschichten erzählen, hängen in ihrer Akzeptanz beim Zuschauer maßgeblich von der Kraft der Behauptung ihrer Protagonisten oder Akteure ab.
Der Mediendom der Fachhochschule Kiel behauptet sich zusätzlich erfolgreich beim Publikum, weil er das für den Menschen von draußen bekannte Raumgefühl mit aller technischen Raffinesse auch nach innen projizieren kann. Zusätzlich haben die für das Programm Verantwortlichen in den letzten Jahren zunehmend zu einer vielfältigen Palette von 360° Produktionen Veranstaltungen in Kombination mit Tanz und Musik in das eigene Programm einbezogen. Dabei ging es immer darum, mit der digitalen virtuellen Kraft der Behauptung auf der animierten Kuppel des Doms die vitale Kraft der Livedarstellung auf der Spielebene am Boden zu verknüpfen.
Die Schule für Schauspiel nutzte ihre vom gängigen Theater‐ und Filmbetrieb unabhängigen Entfaltungsmöglichkeiten und hat in einer Vielzahl von jährlichen Eigenproduktionen experimentelle Spielformen entwickelt und dabei immer auf das Spiel und die Erzählung von Geschichten gesetzt, die durch die lebendige pure Kraft der Behauptung von Spieler und Spiel überzeugen, meist ohne Bühnenbild und aufwändige Kostümierung oder Requisiten.
So lag es nahe, zu versuchen, die medialen Fähigkeiten und Vorteile beider Ansätze in einer gemeinsamen Produktion zusammenzuführen. Dabei waren Sachzwänge zu bewerten und Lösungen zu entwickeln.
Denn Raum‐ und Sachzwänge gibt es ohne Frage: Das gewohnte „Guckkasten‐ Theater“ mit einer zum Publikum hin geöffneten „vierten Wand“ wird unabänderlich allseitig einsehbar.
Der virtuellen Kuppel wird eine lebendige Szenenrealität gegenübergestellt, die aber räumlich nicht zu sehr in die Höhe reichen darf, um im wahrsten Sinne des Wortes keine Schatten auf die Projektionsebene zu werfen, es sei denn diese sind erwünscht. Allerdings auch das Spiel direkt auf dem Boden verbietet sich, weil es im Mediendom nicht ausreichend einsehbar ist. Das „Bühnenbild“ muss vor allem funktional diese Einschränkungen überwinden helfen.
Uns konnte es auch deshalb nicht wirklich um Konkurrenz beider Medien, aber auch nicht um die Verschmelzung von virtuellen und realen Personen und Szenen gehen, wie sie die aktuellen Animationsfilme perfekt zelebrieren.
Wir wollten einen Weg finden, dem jeweiligen Medium seine eigene Realität zu geben und beide gemeinsam für die beabsichtigte Botschaft des Stücks erfolgreich zu nutzen.
Im Audiobereich kann der Mediendom durch seinen perfekten Raumklang szenische Effekte beeindruckend verstärken, 360° Standbilder können eine bühnenbildnerische Atmosphäre erzeugen. In den Videoprojektionen auf die Kuppel setzen wir darauf, eine zu den realen Spielszenen ergänzende „Innenansicht der handelnden Personen“ zu spiegeln, die den anderen Protagonisten verborgen bleibt. Die Projektion ergänzt damit die realen Spielszenen, in denen wiederum alle Formen des Theaters Verwendung finden, vom stummen Spiel, Chor, Dialog und Monolog bis hin zum Gesang und stimmlichen Klangbildern und Klängen erzeugt mit realen Saiteninstrumenten oder denen der Percussion (in Zusammenarbeit mit dem musiculum – der musikalischen Lern‐ und Experimentierwerkstatt in Kiel).
So entsteht wie in einem Kaleidoskop bei gleichem Inhalt immer wieder eine neue Gefühlsebene und Sichtweise auf das Thema.
Dieser mediale und dramaturgische Balanceakt wird insgesamt nur im Kopf jedes einzelnen Zuschauers gelingen oder auch nicht… Es darf gedacht, gestaunt, geweint und gelacht werden, dann ist uns das Experiment gelungen.
Konzeption und Inhalt
Entsprechend einem Konzeptentwurf von Janne Teller (In: KRIEG: Stell Dir vor er wäre hier, Hanser, 2011), sind die von Flucht und Vertreibung Betroffenen in unserem Stück Deutsche, ihr Ziel ist ein Ihnen fremdes Land jenseits des Mittelmeers …
Die Entscheidung zur „Umkehrung“ der Verhältnisse beruht darauf, dass die aktuelle Flüchtlingssituation bereits in vielfältiger medialer Aufbereitung beschrieben ist, ein emotionales und rationales Verständnis der Ursachen von Flucht und Vertreibung bei uns in den Zielländern aber weiterhin in der Breite der Bevölkerung abstrakt bleibt.
Mit einer Umkehrung verbinden wir ‐ ebenso wie Janne Teller ‐ die Erwartung, dass die persönliche Betroffenheit des jungen und älteren Publikums erreicht wird.
In der selbstverständlichen Sicherheit in unserem deutschen Alltag findet man glücklicherweise keinen direkten Zugang zu Krieg und Unterdrückung, Not, Elend und Hunger. Daran ändert es auch nichts, einzelne Attentate als Kriegszustand zu bezeichnen. Was angesichts der tatsächlichen Bedrohung in den Herkunftsländern von den dort betroffenen Menschen als nicht vergleichbare „Bagatellisierung“ angesehen werden muss.
Das Szenario, das uns Deutsche zur Flucht zwingen wird, kann durch politische, wirtschaftliche und klimatische Ursachen oder durch alle zusammen bedingt sein.
Angesichts der Tatsache, dass es von der Machtergreifung der Nazis, der kompletten Außerkraftsetzung bürgerlicher und demokratischer Rechte bis zum Ende des „tausendjährigen Reiches“, an dem halb Europa in Schutt und Asche lag und Millionen Tote, Versehrte, Flüchtlinge und Vertriebene zu beklagen waren, nur zwölf Jahre gedauert hat, verlegen wir unsere Handlung in das Jahr 2030.
Die EU löst sich auf, nationalistische Regierungen beherrschen alle an Deutschland angrenzenden Staaten. Diese schließen sich in der Heiligen Allianz Mitteleuropas zusammen und versuchen die Vorherrschaft Deutschlands durch Wirtschaftssanktionen und Blockaden zu Lande und zu Wasser zu brechen, es kommt zu Unruhen. Eine nationalsozialistische Gruppe in der Bundeswehr putscht nicht ohne Gegenwehr, es fallen Bomben, Panzer fahren auf. Das Regime errichtet eine Schreckensherrschaft, alle demokratischen Rechte werden ausgesetzt, der Zugang zu allen Kommunikationsmedien und sozialen Netzwerken kontrolliert und unterbrochen.
Der Klimawandel beschleunigt sich rasant, heiße trockene Sommer entleeren die Flüsse, Atomkraftwerke müssen europaweit wegen mangelnder Kühlung abgeschaltet werden, Tornados bedrohen die Windkraftanlagen. Katastrophale Fluten zerstören die Deiche und setzen ganze Küstenregionen an Nord‐ und Ostsee unter Wasser.
Der Verlust der Heimat ist unausweichlich, die Flucht zur Rettung der eigenen Existenz die einzige Möglichkeit. Wir begleiten eine Gruppe junger Deutscher aus Kiel, die ihre Familien verlassen haben und sich unter lebensbedrohlichen Bedingungen außer Landes und nach Nordafrika durchschlagen, um eine neue sichere Bleibe und Heimat zu gewinnen.
Wir erleben wie sich unter dem Druck der Ereignisse solidarisches Verhalten mindert, Ängste und Misstrauen zunehmen, vertraute Beziehungen kollabieren und die existenzielle Bedrohung das individuelle Verhalten der Menschen massiv verändert. Wie die völlig ungewohnten Verhältnisse die Bedürfnisse unbeeinflussbar regeln. Wie sich Gründe zur Freude wandeln und ungeahnte Fähigkeiten Platz greifen und bisher selbstverständliche Privilegien als solche erkannt werden. Die unbändige Hoffnung auf eine andere Welt wird auf die neue Heimat in der Fremde projiziert. Dort begegnen die Angekommenen jedoch einer undurchschaubaren Bürokratie und zum Teil unverhohlenen Abwehr durch die Mehrheit der Einheimischen, die neue Fremdheit und Einsamkeit auslöst.
Ansprechpartner des Projektes
Dr. Wolfram D. Kneib (Förderkreis Schauspiel und Sprache g.e.V. und Schule für Schauspiel) adl‐zentrale@t‐online.de
Eduard Thomas (Mediendom der Fachhochschule Kiel) eduard.thomas@fh‐kiel.de
Spielort:
Mediendom der Fachhochschule Kiel Sokratesplatz 6 24149 Kiel Reservierung & Tickets Service 0431 210‐1741 9‐11 (di, do, fr) 15‐17 (di) service mediendom de www.mediendom.de
veröffentlicht am 06.02.2017