Die Diakonie Schleswig-Holstein und die Fachhochschule (FH) Kiel wollen die Lebensgeschichten von Menschen sichtbar machen, die mit wenig Geld ihren Alltag bestreiten. Dazu haben sie jetzt ein Forschungsprojekt gestartet. Mit Hilfe von Interviews wollen die Kooperationspartner unter anderem erforschen, welche Lebensumstände Armut fördern oder aus ihr herausführen und wie Menschen mit wenig Geld ihren Alltag bewältigen. Für das Forschungsprojekt suchen die Beteiligten dringend Menschen, die über ihre Erfahrungen mit Armut berichten.
In Schleswig-Holstein lebten 2019 knapp 16 Prozent der Menschen mit einem Armutsrisiko. Nach Einschätzung der Diakonie hat sich diese Zahl seither kaum verändert, die Situation der Betroffenen aber während der Corona-Krise weiter verschärft. Von Armut bedroht oder betroffen sind vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende, Familien mit drei oder mehr Kindern sowie junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Die Folgen sind gravierend: Neben existenziellen Fragen, wie dem Erhalt der eigenen Wohnung, ist die Teilhabe dieser Menschen am gesellschaftlichen, kulturellen, sportlichen Leben sowie an Bildung und Arbeit stark eingeschränkt. Laut EU-Definition sind Haushalte dann von Armut bedroht, wenn ihnen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zu Verfügung stehen, für eine alleinstehende Person liegt diese Schwelle in Schleswig-Holstein bei einem Nettoeinkommen von 1.143 Euro.
„Armut ist ein Stigma, das Menschen vom Rest der Gesellschaft trennt“, betont Prof. Dr. Kai Marquardsen, Projektleiter der FH Kiel. „Diese Erfahrung machen viele Menschen in Armutslagen auch in Schleswig-Holstein tagtäglich. Trotzdem wird Armut ganz unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Ziel des Projekts ist es sichtbar zu machen, dass stereotype Bilder der Betroffenen zu kurz greifen. Wir wollen ihre Lebensgeschichten betrachten, um Wege in die Armut und aus der Armut heraus besser zu verstehen. Dabei wollen wir auch die regionalen Besonderheiten in den Blick rücken. Ein besonderes Augenmerk werden wir aber auf die individuellen Strategien der Bewältigung von Armut legen.“ Eine der Mitarbeiterinnen des Projektes, Dr. Kim Bräuer führt ergänzend aus: "Auf unserer Suche nach Teilnehmenden ist uns wieder sehr deutlich geworden, dass Armut ein absolutes Tabuthema ist und dass Menschen nicht gerne davon erzählen, wenn sie mit wenig Geld auskommen müssen. Zugleich ist es für die wissenschaftliche Forschung und auch für die Arbeit etwa von Sozialarbeiter*innen sehr wichtig, dass die individuellen Perspektiven von Menschen in Armut öffentlich debattiert werden und Eingang in die wissenschaftliche und berufliche Ausbildung finden."
In den kommenden Monaten möchte Prof. Marquardsen mit seinem Team insgesamt 20 Menschen interviewen, die mit wenig Geld leben oder gelebt haben und aus unterschiedlichen Regionen kommen. Dabei wollen sie typische biografische Verläufe in die Armut beziehungsweise aus der Armut heraus ermitteln. Es gilt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden. Die Befragten sollen berichten, wie sie ihre Situation bewältigen. Außerdem interessiert die Wissenschaftler*innen, welche Rolle regionale Besonderheiten sowie das soziale Umfeld bei der Bewältigung von Armut spielen.
Vor diesem Hintergrund sucht das Forschungsteam der FH Kiel nach Menschen in Schleswig-Holstein, die selbst Erfahrungen damit gemacht haben, mit wenig Geld über die Runden kommen zu müssen und sich vorstellen können, aus ihrem Leben zu erzählen. Selbstverständlich werden alle Gesprächsinhalte streng vertraulich behandelt und vollständig anonymisiert. Interessierte können sich auch unter einem anonymen Namen melden. Am Ende des Projektes im Sommer 2023 stellen die Forschenden die Ergebnisse ihrer Arbeit bei einem Symposium vor. Die Diakonie Schleswig-Holstein wird darüber hinaus die Erkenntnisse gemeinsam mit ihren Trägern und Einrichtungen auswerten und gegebenenfalls die Angebote für Menschen in Armut anpassen.
Für Rückfragen zum Projekt und Terminvereinbarungen steht Jana Matz von der Fachhochschule zur Verfügung: jana.matz(at)fue-fh-kiel.de.
Hier geht es zur Internetseite des Projekts: https://bit.ly/3MLhRpK