Nein, sie sei keine Netzwerkexpertin, auch wenn das Thema Netzwerke sowohl in ihrem Privat- als auch in ihrem Berufsleben täglich eine Rolle spiele. „Wer kann sich schon Expertin oder Experte für ein Thema nennen? Das hat so einen umfassenden Anspruch“, winkt Doris Weßels, Professorin für Wirtschaftsinformatik am Fachbereich Wirtschaft, ab. Aber, räumt sie ein, natürlich habe sie über die Jahre durch ihren persönlichen und beruflichen Werdegang viele Netzwerkerfahrungen gesammelt und Kontakte geknüpft.
Trotzdem war sie ganz erstaunt, als jemand sie zum ersten Mal als „Netzwerkerin“ bezeichnete – hatte sie sich selbst doch bis dahin nicht als eine solche empfunden. Dann kam eine Zeit, in der Prof. Dr. Weßels lernte, wie wichtig und wertvoll Netzwerke sind. In einer sehr turbulenten Phase als Leiterin eines Kompetenzcenters in einem Telekommunikationskonzern, der nach einem starken Aufstieg plötzlich fast vor dem Abgrund stand, spürte sie intensiv die Bedeutung einer gut vernetzten Kollegenschaft und externer Kontakte.
Obwohl es lange als verwerflich galt, Beziehungen zum Beispiel bei der Jobsuche zu nutzen, sei dies heute gar nicht mehr vermeidbar, weiß Prof. Weßels. „Wir leben in einer Netzwerkgesellschaft und können Vernetzung daher nicht als etwas Negatives darstellen – sie ist allgegenwärtig, ob wir es wollen oder nicht. Ich kann schließlich nicht alle meine Kontakte ausblenden, dann bin ich – überspitzt gesagt – gar nicht mehr da.“ Früher sei das jedoch richtig verpönt gewesen. Ihre Generation wollte alles aus eigener Kraft erreichen, erinnert sie sich schmunzelnd. Wenn jemand sie heute um Hilfe bittet, bringt sie sich gern ein. Sie sieht Netzwerke als Möglichkeit zu geben und zu nehmen, als Win-Win-Situation.
Allerdings zieht sie auch Grenzen. Nicht alle Studierenden, die sich beispielsweise eine berufliche Vermittlung von ihr wünschen, empfiehlt Prof. Weßels auch tatsächlich weiter. Eine ganz heikle Sache sei das, denn „wenn da irgendetwas schiefgeht, färbt es möglicherweise auf mich selbst negativ ab.“ Auch wenn sie sich letztendlich nur als lockeres Bindeglied zwischen zwei Parteien sieht, die selbst eine Entscheidung fällen müssen, macht sie, sobald sie das Gefühl hat, eine oder einer ihrer Studierenden habe sich ein „unpassendes“ Unternehmen ausgesucht, ihre Bedenken deutlich und weist auf andere Strategien oder Alternativen hin. „Auch wenn wir dazu erzogen sind, höflich zu sein, zählt letztlich Aufrichtigkeit.“
Durch ihre beruflichen Auf- und Abwärtsbewegungen empfindet sie die Verbindungen, die sie in ihrem Leben geschlossen hat, als einen Schatz. Und den hegt und pflegt die 52-Jährige ganz bewusst, wenn auch „eher intuitiv als strukturiert geplant“. Sie hat keine bestimmte Vorgehensweise, in ihren Netzwerken zu agieren, erwartet aber von sich selbst, sich um alle Termine, Anfragen oder Einladungen zeitnah zu kümmern. Regelmäßig verabredet sie sich mit früheren Kolleginnen und Kollegen und auch Ehemaligentreffen haben für sie an Priorität gewonnen. „Der persönliche Kontakt ist wichtig, nicht unbedingt der virtuelle“, betont Prof. Weßels. „Was macht es schon groß aus, ob ich bei LinkedIn oder XING eine Person bestätige, die ich nur einmal kurz getroffen habe. Daran ist keine Qualität zu erkennen, nur Quantität.“ Von einer digitalen Vernetzung ohne vorherigen persönlichen Kontakt rät sie ab, denn das A und O beim Netzwerken sei Vertrauen. „Was uns der gesunde Menschenverstand sagt, bestätigen alle wissenschaftlichen Studien. Wer nicht vertrauensvoll wirkt, wird nicht lange in Netzwerken überleben. In der virtuellen Welt ist es natürlich schwieriger, die Seriosität einer Person zu überprüfen als in der Realität.“
Das sogenannte „virtuelle Ich“ ist für Prof. Weßels ein spannender und oft unterschätzter Aspekt unserer Netzwerkgesellschaft. Viele Menschen seien sich ihrer parallel existierenden, virtuellen Persönlichkeit nicht bewusst, geschweige denn, dass sie diese steuerten. „Häufig verbreiten auch andere Informationen über uns im Internet, indem sie zum Beispiel Fotos veröffentlichen, auf denen wir zu sehen sind. Viele sind nicht sensibilisiert, auf das zu achten, was über sie kursiert, oder gar einzugreifen. Der Journalist Frank Schirrmacher hat das mal wunderbar beschrieben, indem er sagte, wir hätten alles gelernt, nur eines nicht: Unser ‚virtuelles Ich‘ zu managen.“
Obwohl der Begriff Netzwerk in aller Munde ist, ist er nicht eindeutig zu bestimmen. Das weiß Prof. Weßels aus eigener Erfahrung. „Ohne eine Einschränkung auf eine fachliche Disziplin vorzunehmen, ist das kaum möglich, denn das Wort wird, je nachdem mit wem man spricht, ganz unterschiedlich interpretiert.“ So verstünden Technikerinnen und Techniker darunter ein technisches Netzwerk, IT-Fachleute glaubten, dass das Internet als Netz der Netze schlechthin den Netzwerkbegriff dominiere. Im Business-Umfeld hingegen sei er stark durch die sozialen Netzwerke bestimmt. Doch gerade dieser Facettenreichtum fasziniert Prof. Weßels. „Es ist ein so dynamisches Thema, jeden Tag tut sich etwas – neue Plattformen kommen hinzu, bereits existierende verlieren an Bedeutung. Die Welt ist stark im Wandel und das ist ganz spannend zu beobachten.“
Für ihre Arbeit als Professorin interessieren sie besonders Veränderungen im Bereich der Unternehmens- und Projektnetzwerke. „Der Trend geht dahin, sich über die Unternehmensgrenzen hinaus zu vernetzen und für bestimmte Fragestellungen fachlichen Rat oder Mitwirkung von Freelancern hinzuzuziehen. Projektbeteiligte entstammen nicht mehr nur einer Organisation, weil die vielen komplexen Anforderungen nicht mehr nur mit eigenen Ressourcen bewältigt werden können“, erklärt sie. „Um Aufgaben inhaltlich und zeitlich überhaupt gerecht werden zu können, werden sie nicht mehr an eine bestimmte Person vergeben, sondern immer stärker verteilt. Das bedeutet, dass wir uns in unserem Umfeld viel mehr interdisziplinär vernetzen müssen.“ Hervorragende „Spielwiese“ und exzellentes Testfeld für solche Szenarien schon im Studium sind für Prof. Weßels die Interdisziplinären Wochen an der FH Kiel. „Da machen sich zum Beispiel künftige Ingenieurinnen, Sozialwissenschaftler, Marketingfachleute und Schiffbauerinnen gemeinsam an eine Aufgabe. In dieser Zusammensetzung finden sie ganz andere Lösungen als eine Gruppe mit nur einem fachlichen Background. Jedes Teammitglied redet anders, denkt anders, handelt anders.“
Interessant findet die Professorin auch, dass sich die Macht in Unternehmen erwiesenermaßen immer mehr auf die Mitarbeiterebene verlagert, und diese somit als Individuen immer bedeutsamer werden. „Auf Themen wie Management und Führung, die wir am Fachbereich lehren, haben solche Veränderungen gravierende Einflüsse. Wir bilden die zukünftige Generation für die Arbeitswelt aus und sollten daher wissen, was wir unseren Studierenden mit auf den Weg geben müssen.“
So versucht Prof. Weßels, immer am Puls der Zeit zu sein und ihre Lehrveranstaltungen inhaltlich eng auf aktuelle Entwicklungen und Themen zu beziehen. Auch dafür nutzt sie gerne ihre Kontakte: Ehemalige Studierende referieren in ihren Vorlesungen über ihren beruflichen Alltag, eine Menge Input bezieht die Wirtschaftsinformatikerin aus ihrer „Freizeit“. Manchmal kommt es ihr so vor, als mache ihre Lehrtätigkeit nur einen eher kleinen Bruchteil ihres Wochenarbeitspensums aus. Denn neben ihrem Vollzeitjob als Professorin engagiert sie sich in EU-Projekten, Forschungsverbünden und diversen außerhochschulischen Organisationen, ist unter anderem stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Vereins Digitale Wirtschaft Schleswig-Holstein, Gründerin und Leitungsmitglied der Kieler Regionalgruppe der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement und Vertrauensdozentin der Friedrich-Ebert-Stiftung an der FH Kiel. „Diese Ämter sind aber von unterschiedlicher Qualität“, betont sie, „mal sind diese wichtiger, mal jene, manche erfordern aktives Engagement, andere weniger.“
Sie freut sich, dass eine hohe Überlappung besteht zwischen dem, was sie in diesen Netzwerken tut, und dem, was sie an der FH macht. Viel Spaß macht es ihr, Anregungen aus ihren „Nebenjobs“ in ihre Lehrveranstaltungen einfließen zu lassen, um so die didaktische Vielfalt und auch Vernetzung zu fördern. Das sei auch nötig, meint sie, denn ihre Studierenden gehörten einer Generation an, die – so empfindet sie es – Dynamik und Interaktivität gewohnt ist und erwartet.
Als Vorstandsmitglied der Digitalen Wirtschaft Schleswig-Holstein, einem Netzwerk von Vertreterinnen und Vertretern aus dem IT- und Medienumfeld in Schleswig-Holstein, konzentriert sie sich auf die Nachwuchsarbeit. Um ihre Studierenden, die später zum großen Teil gerne in Schleswig-Holstein arbeiten möchten, möglichst früh mit regionalen Unternehmen zu verknüpfen, hat sie Formate in ihre Veranstaltungen integriert, die einen Austausch ermöglichen. Seit einigen Jahren interviewen beispielsweise Zweierteams von Studierenden IT-Fachleute, Unternehmerinnen und Unternehmer oder auch Vorstandsmitglieder. So sollen die Studierenden herausfinden, welche Voraussetzungen sie für bestimmte Jobs mitbringen müssen und was es bedeutet, eine verantwortungsvolle Tätigkeit in der IT-Branche zu übernehmen. Die anschließende Evaluation beweist immer wieder, dass die Gespräche mit realen „Vorbildern“ ihre Studierenden motivieren. „Das sind Glücksmomente für mich“, sagt Prof. Weßels. Auch die Interviewten bestätigten ihr durchweg, wie anregend es sei, den potentiellen Nachwuchs kennenzulernen.
Ist das alles nicht manchmal ein bisschen anstrengend? Sie sei da „typisch Frau“, sagt sie lachend, und versuche, allen gerecht zu werden. Auch wenn ihr ihre privaten Kontakte „um Welten wichtiger“ sind, möchte sie ihre beruflichen nicht verprellen. Gefühlt habe sie für beide Bereiche nicht genügend Zeit, aber das gehe wohl auch vielen anderen ähnlich. Selbstverständlich, gibt Prof. Weßels zu, gäbe es auch bei ihr diese Tage, an denen einiges zusammenkomme und sie nicht mehr wisse, wo rechts und links sei. Aber sie würde das alles nicht machen, wenn es ihr keinen Spaß bereiten oder sie es als sinnlos empfinden würde.
Trotzdem warnt sie davor, sich beim Netzwerken zu überfordern. Überforderung sei eine reale Gefahr in unserer Netzwerkgesellschaft. „Es ist schlimm, dass wir den Eindruck haben, kaum noch Zeit zum Entspannen und zur Reflektion zu finden. Zeit, die wir bräuchten, um überhaupt gute Ideen zu haben“, sagt Prof. Weßels. „Stress raubt uns viel Kreativität und Lösungspotential, das wir eigentlich haben.“ Mit Hinz und Kunz in Verbindung zu stehen, sei schließlich auch ein Stressfaktor, den niemand unterschätzen dürfe. Auch sie selbst nicht.
von Katja Jantz