Ein Mann steht an einem Staudamm.© Privat

Ein ganz persönliches Japan-Projekt

von viel.-Redaktion

Passend zur aktuellen Stipendien-Ausschreibung der Studienstiftung des Deutschen Volkes haben wir diesen lesenswerten Beitrag mit Fernweh-Garantie aus der viel. von Februar 2015 nochmal online gestellt.

Zu Beginn seines Bachelorstudiums Technologiemanagement und -marketing am Fachbereich Informatik und Elektrotechnik der FH Kiel hatte Philipp Hühn eines bereits fest eingeplant – ein Auslandssemester im dritten Studienjahr. Doch im Gegensatz zu seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die es vorrangig nach Spanien oder in die Türkei zog, entschied er sich für einen Aufenthalt im 9.000 Kilometer entfernten Japan. Dass die Fachhochschule Kiel dort keine Partnerhochschule hat, hielt den heute 23-Jährigen nicht davon ab, seinen Plan zielstrebig umzusetzen. Er suchte sich in Eigenregie einen Studienplatz und ging im März 2014 als sogenannter „Free Mover“ an die Ritsumeikan-Universität Kyōto. Durch einen glücklichen Zufall fand Philipp Hühn vor Ort auch eine Praktikums- und Thesis-Stelle, blieb ein weiteres halbes Jahr und erfüllte sich damit einen weiteren langgehegten Wunsch.

 

Was Philipp Hühn genau an Japan reizt, kann er nur schwer in Worte fassen. Es ist aber vor allem das Traditionsbewusstsein, mit dem alte Handwerkskünste wie der Holzschnitt, das Papierfalten oder das Schönschreiben, gepflegt werden. Auch das ruhige und zielstrebige Ausführen der Arbeiten, begeistern den gebürtigen Hessen; vielleicht, weil er sich mit diesen Eigenschaften identifizieren kann. Bereits während seiner Schulzeit besucht Philipp Hühn aus Neugier einen Japanisch-Sprachkurs an der Volkshochschule – und kann fortan nicht mehr vom ostasiatischen Land im Pazifik lassen. Um seine Kenntnisse zu vertiefen, sucht er im Internet nach Briefbekanntschaften, aus denen manche im Laufe der Jahre zu echten Freundschaften werden. Doch nicht nur sprachlich verbessert er sich, auch über die Geschichte, Landschaft und Kultur erfährt er viel. 2012 entschließt er sich, das Land endlich einmal zu bereisen, bucht kurzerhand die Flüge und macht sich alleine auf den Weg. Per Zug erkundet er Orte und Gegenden wie Tokio oder Nagasaki, besucht einige seiner japanischen Bekanntschaften und lernt dabei Land und Leute sehr zu schätzen. In dieser Zeit kommt er auf die Idee zu seinem persönlichen Japan-Projekt. „Für einen intensiven Eindruck reichen zwei, drei Wochen als Tourist eben nicht aus. Ich wollte meine Urlaubseuphorie einem Realitätscheck unterziehen und nicht nur Japans schöne Seiten, sondern auch die Mankos erleben. Deshalb stand für mich schnell fest, dass ich mein Auslandssemester dort verbringen würde.“

 

Als Philipp Hühn dem damaligen Auslandsbeauftragten des Fachbereichs Informatik und Elektrotechnik von seinem Plan erzählt, legt dieser ihm nahe, vielleicht lieber nach China zu gehen, dort gebe es eine Partnerhochschule, was viel weniger Organisationsstress mit sich bringe. Keine Chance: Philipp Hühn gefällt die Freiheit, das Auslandssemester nach seinen Vorstellungen zu gestalten, dafür nimmt er die Mühe gerne auf sich. Auf der Suche nach einer passenden Hochschule konzentriert sich der junge Mann bewusst auf das Kansai-Gebiet auf der Hauptinsel Honshū im Westen Japans, das mit den Großstädten Kyōto, Ōsaka und Kōbe viel zu bieten hat, aber nicht so überwältigend ist wie Tokio. Auf der Webseite der Ritsumeikan-Universität Kyōto stößt er auf das englischsprachige „Study in Kyōto Program“ für ausländische Studierende. Philipp Hühn bewirbt sich auf den Wirtschaftszweig des Programms und wird angenommen. „Einige Wahlmodule aus dem sechsten Semester hatte ich schon abgearbeitet, und so musste ich vor Ort nur noch zwölf Creditpoints abdecken. Dafür konnte ich Fächer wie International Management, Japanisch oder Intercultural Basics belegen.“

Im März 2014 beginnt Philipp Hühn sein Auslandssemester in Kyōto und ist plötzlich einer von 36.000 Studierenden – eine Dimension, die er aus Kiel so nicht kennt. Japan zeigt sich ihm geordnet und organisiert, denn dort, wo 126 Millionen Menschen auf engem Raum leben, müssen Struktur und Regeln herrschen, das erkennt er schnell. So sind Gehwege beispielsweise durch eine Linie getrennt: links für die eine Richtung, rechts für die andere. Studierende der Ritsumeikan-Universität dürfen die Tore des Campus nur mit ihrem Studierendenausweis passieren. Die kleine rauchfreie „Stadt“, mit eigenem Supermarkt und Buchladen, bleibt für Fremde verschlossen. Der verschulte Unterricht läuft streng nach Plan, jeden Tag gibt es Hausaufgaben. Doch in den englischsprachigen Kursen bleibt Zeit für Fragen, weil die Lehrenden hier keinen traditionell japanischen Frontalunterricht pflegen. Philipp Hühn merkt, dass er das freie Studium zuhause bevorzugt.

Mit einem landestypischen Phänomen wird er von Beginn an konfrontiert: Tatemae und Honne, die öffentliche und eigene Meinung. In Gesprächen verbergen die Einheimischen meist ihre Gefühle und Wünsche und verhalten beziehungsweise äußern sich stattdessen so, wie es den Erwartungen der Gesellschaft entspricht. „Die Menschen wollen ihr eigenes Gesicht wahren und ihr Gegenüber nicht verletzen. Hin und wieder fand ich es anstrengend, zwischen den Zeilen lesen zu müssen, um die Honne herauszubekommen und war irritiert, weil ich nicht wusste, ob meine Bekannten meine Vorschläge wirklich gut fanden oder nicht – es kam ja nie eine Gegenwehr. Die Menschen vermeiden klare Stellungnahmen und dadurch ziehen sich auch Entscheidungen in die Länge.“ Wo die Unterschiede zwischen Japan und Deutschland einerseits gewöhnungsbedürftig sind, sind sie für Philipp Hühn an anderer Stelle leicht anzunehmen. Er reist viel umher und lernt dabei mehr und mehr den buddhistisch und shintoistisch geprägten Rhythmus Japans kennen, der von unzähligen Feiertagen geprägt ist, und ihn fasziniert. Von der Geburt Buddhas über das Vertreiben böser Geister bis hin zum Toten- oder Erntefest, jeder Monat steckt voller Ehrungen und Feierlichkeiten, die von großen Feuerwerken begleitet werden.

Noch in Deutschland hatte Philipp Hühn überlegt, seinen Aufenthalt in Japan durch ein sechsmonatiges Praktikum zu verlängern. Sein Studienschwerpunkt liegt auf den Erneuerbaren Energien, einem Thema, das auch zu Japan gut passt, denn seit dem Tōhoku-Erdbeben 2011 und dem Nuklearunfall im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi hat sich dort für diesen Energiebereich ein Fenster geöffnet. Wie in seiner Heimat gibt es mittlerweile einen Förderungssatz für verschiedene Erneuerbare Energien, aufgrund der vielen Flüsse und Bäche insbesondere für Kleinstwasserkraftwerke. Die Suche nach einem Energieunternehmen hatte sich vorab schwierig gestaltet, erst in Japan wird Philipp Hühn fündig: Zufällig kennt einer seiner Professoren eine japanische Firma, die ein Joint Venture mit dem österreichischen Technologiedienstleister WWS Wasserkraft eingegangen ist, der nun in Japan Anlagen verkaufen und aufbauen will. Für die Kommunikation zwischen beiden Firmen sucht die Okayama Electric Co. Ltd. einen Mitarbeiter, der sowohl Japanisch als auch Deutsch und Englisch spricht und technisches Verständnis mitbringt. Ein Profil wie auf Philipp Hühn zugeschnitten und so bekommt er die Stelle. Anfang August zieht er für sechs Monate aufs Land, nach Ayabe, in ein Apartment über der Firma. Hier ist er als Ausländer plötzlich ein Exot, wird von den Einheimischen beobachtet, ansonsten aber gemieden. Seine Kolleginnen und Kollegen jedoch schätzen den jungen Mann und behandeln ihn wie einen vollwertigen Mitarbeiter. Zu seinen Hauptaufgaben gehört der tägliche E-Mail-Verkehr zwischen beiden Unternehmen.

Zusätzlich beginnt Philipp Hühn nach drei Monaten Praktikum mit der Anfertigung seiner Bachelorarbeit. „Kleinstwasserkraftwerke: Netzeinspeisung im Niederspannungsbereich – technische Möglichkeiten und politische Rahmenbedingungen in Japan“ lautet das Thema, das er zusammen mit seinem Arbeitgeber entwickelt hat. Wann immer es die Arbeit zulässt, versucht er nicht nur herauszufinden, wie sich die politische und wirtschaftliche Einstellung zu Kleinstwasserkraftwerken entwickelt hat, sondern auch, welche Besonderheiten es in Japan beim Anschluss einer solchen Anlage zu beachten gilt. Denn im Gegensatz zu Deutschland ist das japanische Stromnetz zweigeteilt, in einen 50 und einen 60 Herz-Netzfrequenzbereich – der Nordosten des Landes erhielt seine Generatoren und Transformatoren 1895 aus Deutschland, der Südwesten aus den USA. Seine Untersuchungen zum passenden Anschlussort oder der richtigen Spannungsebene helfen dem österreichischen Unternehmen, künftig die richtigen Konstruktionskomponenten zu wählen. Während seiner Recherche stößt Philipp Hühn auf zwei Probleme: Einerseits stammen die verfügbaren Informationen oftmals nur von offizieller Seite – an unabhängigen Quellen mangelt es –, andererseits sind sie vermehrt auf Japanisch. „Um sie alle genau zu verstehen, hätte ich viele spezielle Kanji, also Schriftzeichen, kennen müssen. Das Schriftsystem ist sehr kompliziert und hat 15.000 Zeichen. Selbst Muttersprachlerinnen und -sprachler verzweifeln daran. Glücklicherweise waren einige Quellen auch auf Englisch und im Notfall konnte ich einen Kontakt aus der Branche um Hilfe bitten – in der Firma sprach nämlich niemand Englisch. Ich habe gelernt, Geduld zu haben und mit eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten trotzdem ans Ziel zu kommen. Eine Erfahrung, die ich in Deutschland so nicht gemacht hätte.“

Weit gefehlt, wer denkt, dass Philipp Hühns persönliches Japan-Projekt damit vorbei sei. Nach erfolgreichem Bachelorabschluss beginnt der 23-Jährige noch 2015 einen englischsprachigen Deutsch-Japanischen Doppelmaster in International Material Flow Management an der Fachhochschule Trier. Dieser bringt ihn wieder für ein Jahr ins Land der aufgehenden Sonne. „Ich habe mein Ziel, jede der 47 Präfekturen, sprich japanische Bundesländer, zu besuchen, noch nicht erreicht. Aktuell bin ich bei 25, von daher bleibe ich Japan noch etwas erhalten. Weltreisen reizen mich nicht, ich möchte stattdessen lieber einige wenige Länder wirklich gut kennen. Ob ich später in Japan arbeiten werde, weiß ich noch nicht, möglich wäre es.“

Laura Berndt

© Fachhochschule Kiel