Ein Mann in grauem Kurzarmhemd, steht neben einem Monitor.© H. Ohm
Ob Mediendom oder Virtual-Reality-Headset – Jürgen Rienow ist Experte für immersive Medien.

Aus Kiel in virtuelle Welten

von viel.-Redaktion

Wenn er das Hier und Jetzt hinter sich lässt, dann ist Dr. Jürgen Rienow in seiner Welt. Immersion, das Eintauchen in eine künstliche Realität, ist die Passion des Informatikers, der Studierenden an der FH vermittelt, dass Spiele kein Spielkram sind und der überzeugt davon ist, dass unsere Wohnzimmer bald zu Portalen in virtuelle Welten werden.

Unter mechanischem Geklacker ächzt der Schlitten Meter um Meter die hölzernen Gleise hinauf. Die Aussicht! Diese Aussicht! Zur Rechten das azurblaue Meer, das sich bis zum Horizont unter wolkigem Himmel erstreckt; zur Linken die Stadtmauer, mit ihren gewaltigen Wehrtürmen. Meter um Meter zieht sich der Wagen gleisauf über die hutzelige mittelalterliche Stadt. Fachwerkhäuser, zwischen denen behangene Wäscheleinen im Wind wehen. Der Blick nach hinten sorgt für ein mulmiges Gefühl auf mittlerweile wohl 50 Metern Höhe. Das Klackern wird langsamer und härter, der verstörte Blick zurück nach vorne verheißt nichts Gutes. Die Gleise knicken fast im 90-Grad-Winkel nach unten weg. Der Schlitten stürzt in die Tiefe! Das Holz ächzt. Raserei in steilen Kurven durch Tunnel und Torbögen, vorbei an bunten Jurten – bis die Gleise plötzlich enden. In atemloser Stille geht es durch die Luft, um nach einer nur eine Sekunde langen Ewigkeit unsauber wieder auf den Gleisen aufzusetzen.

„Das ist das Beste, was ich mal eben so anmachen kann“, kommentiert Jürgen Rienow die bewegende Achterbahnfahrt durch eine mittelalterliche Stadt, der lediglich der Fahrtwind fehlt. Behutsam legt der 37-Jährige das klobige schwarze Gerät beiseite, auf das er große Stücke hält. Die Oculus Rift ist ein Virtual-Reality-Headset, das seinen Trägerinnen und Trägern den Eintritt in künstliche Welten ermöglicht. Eine Brücke zwischen dem, was wir als Realität verstehen und der virtuellen Realität, die seine Studierenden erschaffen.

Wer eine Oculus Rift aufsetzt, blickt in Dunkelheit durch zwei Linsen auf zwei Mini-Monitore. Zu sehen ist aber ein Bild, eine künstliche Welt, die nicht am Rande des Sichtfeldes endet. Zudem registriert die Oculus Rift jede Kopfbewegung. Beim Schulterblick nach links oder rechts dreht sich das Bild automatisch in die gleiche Richtung. Ganz als stünde man tatsächlich in der virtuellen Welt und sähe sich um. Spätestens beim Blick nach unten zerbricht die Illusion, denn die eigenen Füße sind eben nicht Bestandteil der virtuellen Welt – noch nicht zumindest. „Es gibt viele solcher Bruchstellen“, erklärt Rienow. „Wenn die Framerate ins Stocken kommt, wenn sich die virtuelle Welt anders verhält als man das erwartet, dann wird einem sogar schlecht.“ Signalisiert der Gleichgewichtssinn etwas anderes als der Sehnerv, gerät der Körper durcheinander. Wer am Institut für Immersive Medien des Fachbereichs Medien einen Ausflug mit der Oculus Rift unternimmt, leidet unter Umständen unter den gleichen Symptomen wie Reisende, denen auf Bahn- oder Seefahrten übel wird. „Vieles ist noch optimierbar“, weiß Rienow. „Eine höhere Grafik-Auflösung verstärkt die Immersion. Mit einem Kopfhörer, der die Bewegungsgeräusche überträgt, wird der Effekt noch größer.“

Bis mehr Menschen mit der Oculus Rift auf dem Kopf künstliche Welten erkunden können, ist es ein langer Weg – zumindest für diejenigen, die diese Welten erschaffen. Studierende des Studiengangs Multimedia Production erfahren im Laufe ihrer Ausbildung, wie aufwändig und komplex die Entwicklung einer Anwendung ist, die Betrachtende in ihren Bann zieht. In Wahlpflichtfächern lernen sie, Projekte zu planen und dabei deren Wirtschaftlichkeit im Auge zu behalten, Grafiken und Animationen zu erstellen und einen Blick dafür zu entwickeln, was gute Geschichten ausmacht. „Das Kino erzählt uns vor allem in amerikanischen Filmen immer wieder die gleichen Geschichten“, seufzt Rienow. „Trotzdem bewegen uns diese Filme aber immer wieder. Es gibt Erzählstrukturen, die einfach funktionieren. Die uns so sehr ergreifen, dass wir auf dem Nachhauseweg noch über den Film nachdenken.“

 

Besondere Bedeutung bei der Erschaffung virtueller Welten für die Oculus Rift hat die Game-Engine, das Software-Werkzeug, in dem alles zusammenläuft und das die Studierenden verstehen müssen. Dafür bedarf es keiner umfassenden Programmierkenntnisse, wenngleich Rienow als Informatiker darauf besteht, dass seine Studierenden zumindest ein „bisschen scripten“ können, um mit eigenen kleinen Programmen ein Projekt voranzutreiben oder im schlimmsten Fall zu retten. Rienow führt sie in die populäre Unity-Engine ein, denn die leistungsfähige Entwicklungsumgebung bietet viele Vorteile. „Für den privaten Gebrauch ist Unity kostenlos. So können sie während ihres Studiums auch auf ihren eigenen Rechnern mit einem professionellen Werkzeug arbeiten“, erklärt er. Künftig sollen im sechsten Semester zehn angehende Multimedia Producerinnen und Producer gemeinsam ein Projekt realisieren – von der Konzeption über die Kalkulation bis hin zum fertigen Produkt. Ob Film, Anwendung oder Spiel, steht den Studierenden frei. Rienow wünscht sich eine neue Welt.

So beeindruckend die Oculus-Rift-Erlebnisse bereits sind, für den Informatiker steht die Entwicklung noch am Anfang. „Bisher gibt es überwiegend Tech-Demos ohne echte Interaktion. Die große Herausforderung ist es, Anwendungen zu entwickeln, die den Einfluss in der virtuellen Welt fördern, ohne dabei die Illusion zu stören.“ Zwar können bereits viele populäre Spiele statt auf dem PC-Monitor mit der Oculus Rift gespielt werden, doch weil dabei blind die Tastatur zur Steuerung bedient werden muss, zerplatzt die Immersion. Einen cleveren Ausweg bieten handelsübliche Eingabegeräte, die den Nunchuck-Controllern für Nintendos Spielkonsole Wii ähneln. Die durch ein Kabel miteinander verbundenen Kunststoffgriffe eignen sich hervorragend, um Bewegungen von Armen und Händen zu erfassen. Mit ihrer Hilfe wäre eine virtuelle Welt denkbar, in der die Spielerinnen und Spieler durch entsprechende Gesten ein Schwert schwingen und sich mit einem Schild schützen. Anstatt die Bewegungen der Occulus-Rift-Tragenden mit der Tastatur oder einem Joypad zu steuern, könnten diese mit Hilfe eines Bewegungssensors erfasst und auf die Spielfigur übertragen werden. Auch die hierfür benötigte Technik findet sich bereits in vielen Wohnzimmern: Kinect, eine Kamera, die Spielende filmt, ist ein Zubehör für die Xbox-Spielkonsole von Microsoft und arbeitet nahtlos mit der Programmierschnittstelle zusammen. Doch wenn die realitätsblinden Spielerinnen oder Spieler mit den Controllern in den Händen aus Versehen über den Wohnzimmertisch stolpern, ist es vorbei mit dem Spaß. Rienow gerät ins Schwärmen, wenn er von kugelgelagerten Laufbändern spricht, auf denen sie sich in jede Richtung auf der Stelle bewegen können. Leider steht die Anschaffung solch großer und teurer Geräte zur Immersionsförderung bislang nur auf seinem Wunschzettel.

 

Und so nähern sich Rienow und seine Studierenden der Immersion in kleinen Schritten mit viel Kreativität. Ein Student hat eine Oculus-Rift-Anwendung konzipiert und umgesetzt, die Klänge visualisiert. Jedes Geräusch in der virtuellen Welt erzeugt Wellenformen, die sichtbar machen, woher die Geräusche kommen – Trittschall für das Auge. „So etwas ließe sich bestens in Videospiele integrieren, um zu zeigen, aus welcher Richtung sich andere Spielfiguren nähern“, freut sich Rienow über die innovative Arbeit. Dieses um-die-Ecke-Denken eröffnet weitere Anwendungsfelder für virtuelle Realitäten. „Wenn Architektinnen oder Architekten ein Haus planen, dann bauen sie ohnehin ein digitales 3-D-Modell. Das kann man in Unity laden und an der Oculus Rift ausgeben“, erklärt Rienow eine mögliche Anwendung. Häuslebauer könnten sich in der virtuellen Realität einen räumlichen Eindruck von den Architekturplänen verschaffen, den virtuellen Rohbau erkunden und Änderungswünsche äußern, noch bevor das Fundament gegossen wird. Psychologinnen und Psychologen könnten mit der Oculus Rift Angst- und Panikstörungen behandeln und eine gezielte Konfrontation durchführen, die in der Realität nicht ohne Weiteres möglich wäre. „Das ist kein Unsinn, kein Spielkram, was wir hier machen“, betont Rienow. Doch revolutionäre Ideen allein reichen ihm nicht. „Es soll zumindest ein proof-of-concept geben, etwas Vorzeigbares, das beweist, dass Ideen auch tatsächlich funktionieren. Empirie gehört immer dazu.“ Mit Hilfe eines Fragebogens oder aufgeklebter Elektroden werten die Studierenden aus, ob sich der Spielfluss verbessert hat oder sie die Handlung intensiver erleben. Einige sind gar nicht zu bremsen, schmunzelt Rienow: „Es gibt immer die zehn Prozent, die sich für ihre Thesis die Nächte um die Ohren schlagen und die Umsetzung perfekt machen wollen.“

Grundsätzlich sind virtuelle Welten nichts Neues. Auch der Mediendom der FH, für den Rienow über viele Jahre Software programmierte und auch zwei Shows konzipierte, entführt seine Gäste in fremde, künstliche Welten. Da die Besucherinnen und Besucher diese jedoch gemeinsam erleben, ist die Immersion nicht so stark, als würden sie sich mit einem Headset im Alleingang aus der Realität verabschieden. In jüngerer Zeit erstarkt das Interesse an künstlichen Welten. Im März 2014 kaufte Facebook die Firma Oculus VR, Hersteller des Virtual-Reality-Headsets, zum Preis von zwei Milliarden US-Dollar (etwa 1,5 Milliarden Euro). Über die Motive von Facebook rätseln Fachleute wie Rienow. „Möglicherweise will das Unternehmen virtuelle Chaträume einrichten.

So könnten sich die Avatare, die virtuellen Stellvertreter der Spielerinnen und Spieler, treffen, gemeinsam exotische Schauplätze erkunden und das Erlebnis miteinander teilen“, spekuliert der Wissenschaftler. Der japanische Medienkonzern Sony möchte virtuelle Welten in das Wohnzimmer bringen und arbeitet am Project Morpheus, einem der Oculus Rift ähnelnden Virtual-Reality-Headset für die Videospiel-Konsole Playstation 4. Im Gegensatz zu diesen Entwicklungen setzt das Internetunternehmen Google mit seiner Datenbrille Google Glass auf Augmented Reality. Im Gegensatz zur virtuellen Realität wird den Tragenden hier eine angereicherte Version der „echten“ Realität gezeigt, wie Rienow erklärt. Beispielsweise lassen sich Informationen aus der Wikipedia über Bauwerke und Plätze im Sichtfeld überblenden oder beim Blick auf ein Kino in der nächsten Stunde beginnende Vorstellungen. Doch bei aller Begeisterung für die vielfältigen Ansätze und die künftigen fantastischen Möglichkeiten gibt es für Rienow keinen besseren Ort als das Hier und Jetzt. Zusammen mit den Studierenden kann er Erlebbares erschaffen, das Patientinnen und Patienten helfen, Menschen miteinander verbinden und Spielende begeistern kann.

von Joachim Kläschen

© Fachhochschule Kiel