Zur Vul­ne­ra­bi­li­tät in der Kind­heit - Was Kin­der stärkt, aber auch schutz­be­dürf­tig macht (RifA)

Pro­jekt­da­ten

Lauf­zeit
Fe­bru­ar 2013 - Mai 2016

Pro­jekt­ver­ant­wort­li­che

Prof. Dr. Sa­bi­ne Andre­sen, Jo­hann Wolf­gang Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt

Kon­takt

s.​andresen(at)em.​uni-frank­furt.de

Hin­ter­grund des Pro­jekts

Dirk Bange dia­gnos­ti­zier­te 2015, dass in der Ju­gend­hil­fe und in der kli­ni­schen Pra­xis in Deutsch­land na­he­zu aus­schlie­ß­lich Fälle aus Fa­mi­li­en mit nied­ri­gem ge­sell­schaft­li­chen Sta­tus be­kannt wür­den. Im Rah­men des Pro­jek­tes soll­te des­halb die spe­zi­fi­sche Vul­ne­ra­bi­li­tät in der Kind­heit, wenn diese durch Armut mit­ge­prägt ist, sowie die be­son­de­re Ver­letz­lich­keit von Kin­dern in Ar­muts­la­gen ana­ly­siert wer­den. Aus­ge­hend von einem Kon­zept der Vul­ne­ra­bi­li­tät in der Kind­heit ziel­te das For­schungs­in­ter­es­se auf eine Un­ter­su­chung der All­tags­er­fah­run­gen und Er­fah­rungs­räu­me von Kin­dern, deren Auf­wach­sen von Armut mit­ge­prägt ist.
Der Blick rich­te­te sich auf das schu­li­sche und au­ßer­schu­li­sche Um­feld der Kin­der, das heißt auf die so­zi­al­räum­li­chen Struk­tu­ren und ihre re­le­van­ten Be­zie­hun­gen zu an­de­ren Kin­dern und Er­wach­se­nen. Neben der De­skrip­ti­on und Ana­ly­se der so­zia­len Struk­tu­ren und Prak­ti­ken ziel­te das Pro­jekt au­ßer­dem auf eine Re­kon­struk­ti­on des Wis­sens bzw. der Hal­tun­gen von Er­wach­se­nen ge­gen­über den The­men der Grenz­ver­let­zun­gen und se­xua­li­sier­ter Ge­walt, um et­wai­ge Ri­si­ko- und schutz­fak­to­ren her­aus­ar­bei­ten zu kön­nen.

Fra­ge­stel­lung

Stellt ein Auf­wach­sen in Armut und stel­len die den Kin­dern in Armut zu­gäng­li­chen schu­li­schen und au­ßer­schu­li­schen Ein­rich­tun­gen be­son­de­re Ri­si­ko­fak­to­ren für Grenz­ver­let­zun­gen dar?

Wel­che Ri­si­ko-, aber auch Schutz­fak­to­ren für Kin­der in Armut las­sen sich iden­ti­fi­zie­ren?

Stu­die

Für eine qua­li­ta­ti­ve Stu­die wur­den in einer deut­schen Gro­ß­stadt Kin­der in Stadt­tei­len mit einem be­son­de­ren Un­ter­stüt­zungs­be­darf über einen mehr­mo­na­ti­gen Zeit­raum be­glei­tet. Die Er­ge­bun­gen fan­den in vier Stadt­tei­len, in Schu­len und au­ßer­schu­li­schen Ein­rich­tun­gen statt. In der Stu­die kamen die Me­tho­den der teil­neh­men­den Be­ob­ach­tung, der In­ter­views und der Grup­pen­diss­kusio­nen zum Ein­satz. Mit der teil­neh­men­den Be­ob­ach­tung wurde der All­tag von Kin­dern die so­zia­len Prak­ti­ken zwi­schen Gleich­alt­ri­gen und zwi­schen Kin­dern und Er­wach­se­nen re­kon­stru­iert.

Die 16 In­ter­views mit Kin­dern ziel­ten u.a. dar­auf ab, ihre psy­cho­so­zia­le Um­welt be­schrei­ben und ana­ly­sie­ren zu kön­nen. Fer­ner ging es um ihr Ver­ständ­nis von Grenz­ver­let­zun­gen. Die In­ter­views mit den 23 Er­wach­se­nen dien­ten der Re­kon­struk­ti­on ihres Ver­ständ­nis­ses von Ver­letz­lich­keit in der Kind­heit, von Grenz­ver­let­zun­gen und des je­wei­li­gen Wis­sens über se­xu­el­le Ge­walt gegen Kin­der.

Aus­ge­wähl­te Er­geb­nis­se

Er­fah­run­gen:
Die Stu­die deu­tet dar­auf hin, dass das Er­le­ben von Grenz­ver­let­zun­gen ein wes­ten­li­cher As­pekt der All­ta­g­er­fah­run­gen von Kin­dern ist. Das Spek­trum reicht von mas­si­ven Grenz­ver­let­zun­gen wie phy­si­scher, ver­ba­ler und se­xu­el­ler Ge­walt bis hin zu eher sub­ti­len For­men. Grenz­über­schrei­ten­de oder -ver­let­zen­de Prak­ti­ken sind im päd­ago­gi­schen All­tag immer wie­der zu be­ob­ach­ten. Eben­so geben Er­zäh­lun­gen über sie Auf­schluss. Wenn sie nicht selbst er­lebt wer­den, sind sie den­noch über Be­ob­ach­tun­gen und Er­zäh­lun­gen ein fes­ter Be­stand­teil der Le­bens­welt von Kin­dern. Kin­der er­fah­ren Grenz­ver­let­zun­gen und the­ma­ti­sie­ren diese be­zo­gen auf ihre all­täg­li­chen Er­fah­rungs­räu­me Von Be­deu­tung bei Grenz­ver­let­zun­gen von Er­wach­se­nen ge­gen­über Kin­dern ist, dass diese in einem la­te­ra­len Macht­ge­fällt be­gan­gen wer­den. In­so­fern wer­den Grenz­ver­let­zun­gen - so­wohl phy­si­scher wie ver­ba­ler Art - unter Um­stän­den von Er­wach­se­nen auch als er­zie­he­ri­sche Maß­nah­me ein­ge­setzt.

Um­gang:
Die Re­ak­tio­nen der Kin­der un­mit­tel­bar nach einer er­leb­ten Grenz­ver­let­zung geben Auf­schluss über das un­ge­fil­ter­te Er­le­ben und den di­rek­ten Um­gang mit Grenz­ver­let­zun­gen in dem Mo­ment, in dem sie statt­fin­den. Ge­mein­sam war allen Re­ak­tio­nen, dass sie mit einer hohen Emo­tio­na­li­tät ein­her­gin­gen. Es zeig­ten sich vor allem Af­fek­te von Wut, Scham, Furcht und Trau­er. Zudem ist in den Be­ob­ach­tun­gen deut­lich ge­wor­den, dass ge­ra­de la­ten­te­re For­men der Grenz­ver­let­zun­gen, wie im Bei­spiel der Di­stanz­lo­sig­keit sei­tens einer Fach­kraft, oft nur über die emo­tio­na­le Re­ak­ti­on des Kin­des als sol­che er­kenn­bar wer­den. Hät­ten die Kin­der nicht mit kör­per­li­cher Ab­wehr, furcht­sa­mer Mimik, oder ver­le­ge­nem Ki­chern re­agiert, blie­be un­ge­klärt, ob sie die Si­tua­ti­on als grenz­ver­let­zend emp­fun­den haben. Die Kin­der ver­such­ten, den Grenz­ver­let­zun­gen eher aus­zu­wei­chen, sie aktiv zu un­ter­bin­den oder sich zu weh­ren.

Pra­xis­be­zug

  • Um Grenz­ver­let­zun­gen im All­tag von Kin­dern be­ob­ach­ten zu kön­nen, braucht es Zeit und die Kom­pe­tenz des Be­ob­ach­tens.
  • Wich­tig ist ein fach­li­cher Aus­tausch über be­ob­ach­te­te Man­gel­erfah­run­gen von Kin­dern auf­grund von Ar­muts­la­gen und Lö­sungs­mög­lich­kei­ten für den päd­ago­gi­schen All­tag.
  • Für Lehr- und Fach­kräf­te soll­te Ver­net­zung er­mög­licht wer­den.
  • In der Ar­beit mit Müt­tern und Vä­tern soll­ten nied­rig­schwel­li­ge Ge­sprächs­an­ge­bo­te er­probt wer­den.
  • Wich­tig ist, Kin­der in Ent­schei­dun­gen mit­ein­zu­be­zie­hen, damit sie Er­fah­run­gen von Selbst­wirk­sam­keit ma­chen.

Pu­bli­ka­tio­nen

Ver­öf­fent­licht:

Andre­sen, Sa­bi­ne; Künst­ler, So­phie (2015): Vul­ne­ra­bi­li­tät und se­xu­el­le Ge­walt in der Kind­heit. Her­aus­for­de­run­gen der Kind­heits­for­schung. In: Zeit­schrift für Se­xu­al­for­schung 28. S. 318-334.

Andre­sen, Sa­bi­ne (2015): Kin­der­schutz im All­tag - Multi­di­men­sio­na­le Per­spek­ti­ven und Kon­zep­te. In: Krone, Ger­burg; Lieb­hart, Hu­bert (Hrsg.): In­sti­tu­tio­nel­ler Schutz vor se­xu­el­lem Miss­brauch. Acht­sam und ver­ant­wort­lich han­deln in Ein­rich­tun­gen der Ca­ri­tas. Wein­heim: Beltz Ju­ven­ta. S. 117-126.

Andre­sen, Sa­bi­ne (2015): Das vul­ne­r­a­ble Kind in Armut. Di­men­sio­nen von Vul­ne­ra­bi­li­tät. In: Andre­sen, Sa­bi­ne; Koch, Claus; König, Julia (Hrsg.): Vul­ne­r­a­ble Kin­der. In­ter­dis­zi­pli­nä­re An­nä­he­run­gen. Wies­ba­den: Sprin­ger VS. S. 134-154.

Andre­sen, Sa­bi­ne (2015): Armut in der Kind­heit. Wie kann man den Er­fah­run­gen ge­recht wer­den? In: Päd­ago­gik, 7. S. 42-45.

Andre­sen, Sa­bi­ne (2014): Child­hood Vul­ne­ra­bi­li­ty. Sys­te­ma­tic, Struc­tu­ral and In­di­vi­du­al Di­men­si­ons. In: Child In­di­ca­tors Re­se­arch, 7. S. 699-713.

In Vor­be­rei­tung:

Andre­sen, Sa­bi­ne; Mei­land, Ste­pha­nie: Ma­te­ri­al and So­ci­al Restric­tions from a Child­ren´s Point of View. Fin­dings from Qua­li­ta­ti­ve Data about Child Po­ver­ty in Ger­many. Ein­ge­reicht in: McAu­ley Co­let­te; Rose, Wendy (Hrsg.): Child- and Youth Ser­vices Re­view, Spe­cial Issue. In Ar­beit.