In­sti­tu­tio­nel­le Ri­si­ko­kon­stel­la­tio­nen se­xu­el­ler Ge­walt in fa­mi­lia­li­sier­ten päd­ago­gi­schen Kon­tex­ten

(IRiK)

Pro­jekt­da­ten

Lauf­zeit

De­zem­ber 2013 - April 2016

Pro­jekt­ver­ant­wort­li­che
Prof. Dr. Fa­bi­an Kessl, Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen
Prof. Dr. Sa­bi­ne Reh, Bil­dungs­ge­schicht­li­che Bi­blio­thek (BBF) des Deut­sches In­sti­tuts für In­ter­na­tio­na­le Päd­ago­gi­sche For­schung (DIPF)

Kon­takt

fa­bi­an.kessl(at)uni-due.de
sa­bi­ne.reh(at)dipf.​de

Hin­ter­grund des Pro­jekts

Päd­ago­gi­sche Set­tings, in denen es in der Ver­gan­gen­heit zu se­xua­li­sier­ter Ge­walt von Er­wach­se­nen ge­gen­über Kin­dern ge­kom­men ist, wei­sen oft ein ähn­li­ches Struk­tur­merk­mal auf: Sie sind fa­mi­li­en­ähn­lich or­ga­ni­siert. Kin­dern und Ju­gend­li­chen soll in fa­mi­li­en­ähn­li­chen Set­tings eine Le­bens­si­tua­ti­on ge­bo­ten wer­den, in der sie auf ähn­lich ver­bind­li­che und ver­trau­te Ge­ne­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen bauen kön­nen, wie in ihren Her­kunfts­fa­mi­li­en. Die so er­mög­lich­te Nähe ist IRiK war dar­auf aus­ge­rich­tet, die kon­kre­ten Voll­zugs­mus­ter und -lo­gi­ken von Prak­ti­ken der Fa­mi­lia­li­sie­rung zu iden­ti­fi­zie­ren. Das For­schungs­in­ter­es­se galt dabei dem Po­ten­zi­al die­ser spe­zi­fi­schen Mus­ter päd­ago­gi­scher Prak­ti­ken für eine Er­mög­li­chung oder Ver­hin­de­rung se­xu­el­ler Ge­walt. Das For­schungs­pro­jekt bie­tet damit eine sys­te­ma­ti­sche Re­kon­struk­ti­on or­ga­ni­sa­tio­na­ler Ri­si­ko­kon­stel­la­tio­nen und Prä­ven­ti­ons­struk­tu­ren an, deren Kennt­nis für die (Wei­ter)Ent­wick­lung von Prä­ven­ti­ons- und Schutz­stra­te­gi­en in päd­ago­gi­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen von fun­da­men­ta­ler Be­deu­tung sind.

Fra­ge­stel­lung

In wel­chen Fi­gu­ra­tio­nen und in wel­chen Kon­stel­la­tio­nen zei­gen sich in den un­ter­schied­li­chen päd­ago­gi­schen Fel­dern (Ganz­tags­schu­le, In­ter­nat, Kin­der- und Ju­gend­hil­fe) Prak­ti­ken der Fa­mi­lia­li­sie­rung von In­ter­ak­tio­nen?

Wie wer­den dabei Struk­tu­ren der Fremd- und Selbst­kon­trol­le ge­gen­über den pro­fes­sio­nell Tä­ti­gen und unter ihnen ge­schaf­fen und ge­stal­tet?

Wann dient die päd­ago­gi­sche Stra­te­gie der Fa­mi­lia­li­sie­rung in der All­tags­pra­xis der Fach­kräf­te der Ent­wick­lung des Kin­des oder Ju­gend­li­chen und wann ge­lingt dies nicht? In­wie­fern zei­gen sich hier spe­zi­fi­sche Mus­ter der Ge­stal­tung von Nähe und Di­stanz?

Stu­die

Das For­schungs­pro­jekt war als eth­no­gra­phi­sche Fall­stu­di­en kon­zi­piert, in der all­täg­li­che Si­tua­tio­nen in einer Ganz­tags­schu­le, einer so­zi­al­päd­ago­gi­schen Wohn­grup­pe der Kin­der- und Ju­gend­hil­fe und einem In­ter­nat be­ob­ach­tet wur­den. Hier­zu wur­den die Fach­kräf­te in den drei un­ter­such­ten Or­ga­ni­sa­tio­nen von zwei For­scher_in­nen meh­re­re Mo­na­te in ihrem All­tag be­glei­tet. Die Be­ob­ach­tun­gen wur­den ent­lang eines Leit­fa­dens struk­tu­riert. Er­gän­zend wur­den Ex­per­t_in­nen­in­ter­views mit den Lei­tungs­kräf­ten und Grup­pen­dis­kus­sio­nen mit Schü­ler_in­nen bzw. Be­woh­ner_in­nen und Leh­rer_in­nen bzw. So­zi­al­päd­ago­g_in­nen/So­zi­al­ar­bei­ter_in­nen durch­ge­führt.

Alle Be­ob­ach­tun­gen wur­den schrift­lich in Ta­ges­pro­to­kol­len do­ku­men­tiert. Die Ton­auf­nah­men der In­ter­views und Grup­pen­dis­kus­sio­nen wur­den eben­falls ver­schrift­licht. Die Da­ten­aus­wer­tung ori­en­tier­te sich an der Per­spek­ti­ve in­ter­pre­ta­ti­ver Bil­dungs- und So­zi­al­for­schung im Sinne der Pra­xis­theo­rie. Von In­ter­es­se waren daher nicht per­sön­li­che In­ten­tio­nen oder Mo­ti­va­tio­nen, son­dern vor allem so­zia­le Si­tua­tio­nen und Kon­stel­la­tio­nen - also Mus­ter all­täg­li­cher Pra­xis, die von den be­tei­lig­ten Ak­teu­ren und Or­ga­ni­sa­tio­nen als fa­mi­lia­li­sier­te kon­zi­piert, fa­mi­li­en­ähn­lich ge­stal­tet oder in­ner­halb als fa­mi­li­en­ähn­li­che the­ma­ti­siert wur­den. Das Ziel eth­no­gra­fi­scher For­schung ist nicht, das Ge­lin­gen oder Schei­tern päd­ago­gi­scher Pra­xis auf­zu­zei­gen oder zu be­wer­ten, son­dern deren Struk­tu­ren und Logik zu er­schlie­ßen und zu ver­ste­hen.

Aus­ge­wähl­te Er­geb­nis­se

Mit IRiK konn­te ein Ver­ständ­nis über die be­son­de­re fa­mi­lia­li­sier­te Pra­xis in päd­ago­gi­schen Kon­tex­ten ge­won­nen wer­den. Zu­gleich er­öff­ne­te die eth­no­gra­fi­sche Vor­ge­hens­wei­se einen Raum der Re­fle­xi­on über an­sons­ten als selbst­ver­ständ­lich an­ge­se­he­ne Pra­xis­mus­ter.

In der ver­glei­chen­den Ana­ly­se der drei Or­ga­ni­sa­tio­nen haben wir un­ter­schied­li­che For­ma­te, Grade und Mus­ter von „Fa­mi­lia­li­sie­rung“ be­ob­ach­tet und re­kon­stru­iert: Dabei legt nicht die ex­pli­zi­te Fa­mi­lia­li­sie­rung einer päd­ago­gi­schen Or­ga­ni­sa­ti­on be­reits das Ri­si­ko­po­ten­zi­al fest, son­dern erst die je­wei­li­ge Aus­ge­stal­tung. Wohn­grup­pe, In­ter­nat und Ganz­tags­schu­le ste­hen zu­gleich für ver­schie­de­ne As­pek­te, ent­lang derer sich Ri­si­ko­po­ten­zia­le und -kon­stel­la­tio­nen aus­ma­chen las­sen: In­ti­mi­tät, Pri­vat­heit und Par­ti­zi­pa­ti­on.

Pra­xis­be­zug

In päd­ago­gi­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen ist es un­er­läss­lich, die Stuk­tur und Logik des je­wei­li­gen Fel­des zu ver­ste­hen. Erst wenn die Ge­mein­sam­kei­ten und die Un­ter­schie­de klar zwi­schen den je­wei­li­gen Fel­dern klar be­nannt wer­den und den Be­tei­lig­ten be­kannt sind, kön­nen Ge­lin­gens­be­din­gun­gen her­ge­stellt und Ri­si­ko­struk­tu­ren ver­mie­den wer­den.

Fa­mi­lia­li­sie­rung an sich stellt weder eine Ri­si­ko­struk­tur für se­xu­el­le Ge­walt noch eine Ge­lin­gens­be­din­gung päd­ago­gi­schen Tuns dar.

Pu­bli­ka­tio­nen

Ver­öf­fent­licht:

Bitt­ner, Mar­tin; Witt­feld, Meike (2017): Si­che­re Räume? Eine He­tero­to­pie päd­ago­gi­scher In­sti­tu­tio­nen. In: Thole, Wer­ner, Kol­ler, Hans-Chris­toph; Gla­ser, Edith (Hrsg.): Räume für Bil­dung: Räume der Bil­dung – Bei­trä­ge zum 25. Kon­gress der Deut­schen Ge­sell­schaft für Er­zie­hungs­wis­sen­schaft. Wies­ba­den: Sprin­ger.

Bitt­ner, Mar­tin; Witt­feld, Meike (2015): Trans­fer­über­le­gung - Zur Be­geg­nung se­xu­el­ler Ge­walt gegen Schutz­be­foh­le­ne in päd­ago­gi­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen. Die be­rufs­bil­den­de Schu­le, 67 (2015). S. 8-12.

Kessl, Fa­bi­an (2017): Fa­mi­li­en­ähn­li­che Hil­fen zur Er­zie­hung. In: Meuth, Mi­ri­am (Hrsg.): Räume und päd­ago­gi­sche Orte. Er­zie­hungs­wis­sen­schaft­li­che Zu­gän­ge zum Woh­nen. Wies­ba­den: Sprin­ger. S. 171-194.

Kessl, Fa­bi­an (2015): In­sti­tu­tio­nel­le Ri­si­ko­struk­tu­ren – An­for­de­run­gen an päd­ago­gi­sche Pro­fes­sio­na­li­tät in fa­mi­li­en­ähn­lich or­ga­ni­sier­ten Set­tings. In: Böl­lert, Karin; Waz­la­wik, Mar­tin (Hrsg.): Päd­ago­gi­sche Pro­fes­sio­na­li­tät und se­xu­el­le Ge­walt. Wies­ba­den: Sprin­ger VS.

Kessl, Fa­bi­an; Koch, Ni­co­le; Witt­feld, Meike (2015): Fa­mi­li­en als ri­si­ko­haf­te Kon­stel­la­tio­nen: Gren­zen und Be­din­gun­gen in­sti­tu­tio­nel­ler Fa­mi­lia­li­sie­rung. In: Su­sann, Feg­ter; Heite, Car­tin; Mie­ren­dorff, Jo­han­na; Rich­ter, Mar­ti­na (Hrsg.): Trans­for­ma­tio­nen von Fa­mi­lie und El­tern­schaft. so­zi­al­päd­ago­gi­sche Per­spek­ti­ven: neue pra­xis - Son­der­heft.

Kessl, Fa­bi­an; Hart­mann, Meike; Lütke-Har­mann, Mar­ti­na; Reh, Sa­bi­ne (2012): Die in­sze­nier­te Fa­mi­lie: Fa­mi­lia­li­sie­rung als Ri­si­ko­struk­tur se­xua­li­sier­ter Ge­walt. In: Andre­sen, Sa­bi­ne (Hrsg.): Zer­stö­re­ri­sche Vor­gän­ge: Miss­ach­tung und se­xu­el­le Ge­walt gegen Kin­der und Ju­gend­li­che in In­sti­tu­tio­nen. Wein­heim [u.a.]: Beltz Ju­ven­ta. S. 164-177.

In Vor­be­rei­tung:

Bitt­ner, Mar­tin; Witt­feld, Meike: Pe­dago­gi­cal re­la­ti­on­ships in time of se­xu­al vio­lence. Consti­tu­ting in­ti­ma­cy and­cor­po­ra­li­ty at the li­mits. In: Eth­no­gra­phy and Edu­ca­ti­on. Im Er­schei­nen.