Einführungsrede

Einführungsrede zu Vladimir Sitnikovs Ausstellung "Falten der Zeit"

Falten der Zeit

von Dr. Klára Erdei

Mit einem Zitat über die Falten der Zeit von Michel Serres, dem vor zwei Jahren verstorbenen französischen Philosophen, möchte ich beginnen: „Die Zeit fließt nicht immer entlang einer Linie … auch nicht nach einer außerordentlich komplexen Mannigfaltigkeit, als zeigte sie Haltepunkte, Brüche, Brunnen, Schächte mit einer unglaublichen Beschleunigung, Risse Löcher … das ganze aleatorisch verstreut, zumindest in einer sichtlichen Unordnung. … Intuitiver lässt sich diese Zeit durch eine Art Zerknittern veranschaulichen, durch eine vielfach faltbare Mannigfaltigkeit. Objekte, Umstände sind also polychron, multitemporal, zeigen eine mehrfach gefaltete, gefältelte Zeit.“ (Zitat aus Michel Serres: Gespräche mit Bruno Latour. Merve Verlag, Berlin, 2008, S. 89.

Wir erinnern uns noch gut, wie in den dunklen Monaten der Corona-Pandemie die Welt still zu stehen schien. Gegen diesen Stillstand half uns ein wenig– also Vladimir Sitnikov und mir -, spazieren zu gehen. Vielleicht waren wir noch nie so viel zu Fuß in der Natur an der Ostseeküste oder in den Wäldern, aber auch in der Stadt unterwegs wie im Lockdown, vielleicht haben wir vieles noch nie so bewusst, ohne Ablenkung, Lärm und Hektik gesehen und wahrgenommen. Es geschah NICHTS und nichts konnte besser die totale Abwesenheit von Ereignissen, Konsumreizen und Werbekampagnen, Events und Kulturveranstaltungen widerspiegeln als die Litfaßsäulen der Stadt. Wir merkten langsam, dass sie nicht mehr beklebt wurden, sie standen nur noch für abgelaufene oder wegen der Pandemie geschlossene Ausstellungen und längst verhallte Konzerte. Die nach dem Verleger Ernst Litfaß benannten Reklamesäulen verloren ihre wichtigste Funktion: die aktuelle, kurzlebige Information der Öffentlichkeit.

Wir beobachteten die langsam voranschreitende „Verwahrlosung“ der Plakate: sie blichen aus, bekamen Risse, lösten sich, warfen Falten. Dann wurde der Kleber vom Regen aufgelöst und der Wind verwehte die Fetzen. Und vor unseren Augen erschienen immer weitere, frühere Plakatschichten, die Litfaßsäule häutete sich, die Zeit stand nicht mehr still, sondern lief rückwärts. Das älteste Plakat, das wir gefunden haben, datierte 1972. Die Zeit und die Naturelemente deckten eine Archäologie der Kulturschichten auf.

Die Kunsttechnik der „Décollage“ ist das Gegenteil der „Collage“. Statt ein Bild aus Versatzstücken zusammenzufügen, werden Teile eines Originalbildes entfernt. „Erfinder“ der „Décollage“ war Mimmo Rotella, der 1953 den ästhetischen Reiz abgerissener Plakate entdeckte und kreierte aus Elementen des städtischen Alltags, der Werbung, eine europäische Position zur amerikanischen Pop-Art. Rotella übertrug Plakate bzw. Plakatschichten von Werbetafeln und Litfaßsäulen auf die Leinwand, riss Abschnitte ab und übermalte, verzerrte, entfärbte, schichtete sie aufeinander oder klebte Plakatrückseiten auf die Leinwand. Die Künstler des „Nouveau Réalisme“ in Frankreich oder Wolf Vostell, der diesen Begriff prägte, später in abgewandelter Form z.B. auch Robert Rauschenberg, übernahmen diese Technik.

Auf den Fotos von Vladimir Sitnikov geschieht die „Décollage“ der Plakate nicht von Menschenhand: die Zeit, die Elemente, Regen und Sturm dekonstruierten die Plakate auf den Litfaßsäulen, entfärbten, zerfetzten und zersetzten sie langsam über die Monate, während die Welt stillstand, legten immer weiter neue Schichten frei und die alten in Falten. Sitnikov drückt nur auf den Auslöser seiner Kamera, verändert nichts. Er wartet ab, fotografiert dieselben Litfaßsäulen immer wieder, dokumentiert die von der Natur verursachte Veränderungen, Verschiebungen und Häutungen – ohne Nachbearbeitung, ohne Fotoshop. Begegnete uns in diesem Hiatus der Geschichte eine Multitemporalität oder die temporäre Totalauflösung der Zeit? Lief die Zeit rückwärts oder dekonstrukturierte sie sich selbst? Jeder von uns erlebte die Auflösungserscheinungen anders.

„Denken heißt falten – sagt ein anderer französischer Philosoph, Gilles Deleuze. In Falten birgt sich das nicht-lesbare seelische Potential. Falten umspielen Strukturen, statt diese abschließend festzulegen … der Faltenwurf entwickelt sich zur Projektionsfläche für Gedankenspiele.“

Vladimir Sitnikovs Fotoreportagen halten die dunklen Monate fest, als die Welt und die Menschen aus der Zeit fielen, was vorher sich niemand vorstellen konnte und nachher kaum jemand erinnern will. Der Frühling kam, der Lockdown neigte sich seinem Ende zu, die Säulen – zumindest die meisten - wurden nacheinander gesäubert und mit riesigen, frisch glänzenden und farbigen neuen Plakaten beklebt, das Leben kehrte mit aller Wucht zurück.

Die Aufnahmen und das Künstlerbuch, das aus den Fotos entstanden ist (und hier im Bunker D während der Ausstellung auch erhältlich), archivieren diese hoffentlich nie wiederkehrende, unwirkliche Zeit für uns alle. Im Buch und auch in der Ausstellung werden die Bilder von bekannten zeitphilosophischen Zitaten begleitet – chronologisch selbstverständlich rückwärts - von Derrida über Heidegger und Kant bis zu Augustinus und Seneca.