Er­öff­nungs­re­de

Ani­tas Aus­stel­lung

von Gün­ter Sen­kel

 


Das le­ckers­te halbe Schin­ken­brot, das ich je ge­se­hen habe, lag nicht in der
Aus­la­ge einer Bä­cke­rei. Es hing im Neu­mün­st­er­aner Kul­tur­kauf­haus. In
Me­ter­grö­ße. Ein Traum von einer Mahl­zeit. Un­er­reich­bar in 2 Meter 50 Höhe
von Anita Schwie­ger an der Wand plat­ziert.

Die Er­näh­rungs­psy­cho­lo­gie lehrt uns, daß Spei­sen immer le­cke­re­rer daher
kom­men mü­ssen je we­ni­ger Hun­ger wir haben. Der erste Gang eines
Gän­ge­me­nüs er­for­dert wenig Auf­merk­sam­keit. Je wei­ter wir vor­an­schrei­ten, je
vol­ler der Magen, je stär­ker das Sät­ti­gungs­ge­fühl, desto aus­ge­feil­ter mü­ssen die
Spei­sen her­ge­rich­tet sein, um un­se­ren Ap­pe­tit zu er­re­gen.

Unser ers­ter Schrei nach der Ge­burt ist der Ruf nach Luft, aber schon der zwei­te
ist der Ruf nach Nah­rung. Und die­ser Schrei ver­stummt nie. Er er­tönt bis an
unser Le­bens­en­de. Un­un­ter­bro­chen. Be­kom­men wir keine Nah­rung, so ster­ben
wir. Die Wahr­heit liegt in einem Wort. Le­bens­mit­tel sind Mit­tel zum Leben.
Dar­aus zie­hen sie die Be­rech­ti­gung ihres Da­seins.

Kunst­voll her­ge­rich­te­te Spei­sen haben eine kurze Exis­tenz. Zer­stört wer­den sie
im Mo­ment des höchs­ten Ge­nus­ses. Zer­kaut, zwi­schen Zäh­nen zer­mah­len. Der
Belag zer­fetzt. Die Grund­la­ge in Bröck­chen zer­legt, die sich schlu­cken las­sen.
Kein Schin­ken­bröt­chen ver­lässt so schön, wie es hin­ein­ge­kom­men ist, den
Mund oder gar den Magen.

Die Pro­vo­ka­ti­on einer Por­traitsamm­lung von 25 Scho­ko­ha­sen – wie Anita
Schwie­ger sie einst im Hof Acker­boom ge­zeigt hat – liegt darin, daß jeder von
uns im März in den Su­per­markt gehen und sich den Ein­kaufs­wa­gen mit di­ver­sen
Mo­del­len aus der sai­so­na­len Su­̈ßi­gke­ite­npr­odu­kt­ion voll­pa­cken kann. Der
An­blick eines Scho­ko­ha­sen – sei­ner Alu­hü­lle ent­klei­det, mit grenz­de­bi­lem
Ge­sichts­aus­druck – das Pri­vi­leg einer sat­ten Ge­sell­schaft.

900 Mil­lio­nen Men­schen lei­den auf der Welt an Un­ter­ernäh­rung. Alle drei
Se­kun­den stirbt ein Mensch an Hun­ger. Die Kli­ma­ver­än­de­rung ver­wü­stet die
Acker­flä­chen längst nicht mehr nur in der drit­ten Welt, son­dern auch in
Sü­de­ur­opa.

Mit den Nah­rungs­mit­teln, die in Deutsch­land weg­ge­wor­fen wer­den, könn­ten wir
ein Land ver­gleich­ba­rer Größe voll­stän­dig mit­er­näh­ren. Ähn­lich in Eng­land, in
Frank­reich – wäh­rend in Grie­chen­land grad die ers­ten Hun­ger­to­ten aus den
Häu­sern ge­tra­gen wer­den. Hun­ger heute ist kein Na­tur­ge­setz. Er ist ein
Ver­tei­lungs­pro­blem, nicht eine Frage des Kön­nens, son­dern des Wol­lens.
Und Hun­ger ist eine Waffe.

Als die Trup­pen Nazi-Deutsch­lands ihren Ver­nich­tungs­krieg gegen die
sla­wi­schen Län­der füh­rten, schlos­sen sie die Stadt Le­nin­grad ein.
Im Sep­tem­ber 1941 leb­ten in­ner­halb des Blo­cka­de­rings der Wehr­macht fast 3
Mil­lio­nen Men­schen. Davon star­ben wäh­rend der knapp 900- tä­gi­gen
Be­la­ge­rung 630 000 al­lein an Hun­ger und Kälte. Be­la­ge­rung ist viel­leicht das
fal­sche Wort, denn es ging nicht darum, die Stadt zu er­obern. Die Fü­hrung des
Deut­schen Rei­ches hatte keine Ver­wen­dung für sie. Le­nin­grad soll­te aus­ra­diert,
die Be­woh­ner ver­nich­tet wer­den.

Die we­nigs­ten hier – mich ein­ge­schlos­sen – kön­nen sich am ei­ge­nen Leib
vor­stel­len, was es heißt, zu ver­hun­gern.


Aber wir brau­chen nicht weit zu schau­en, um Orte zu fin­den, an denen Hun­ger
an die­sem Tag als Waffe ein­ge­setzt wird. In Sy­ri­en zer­stö­ren Söld­ner der NATO
und Saudi Ara­bi­ens ziel­ge­rich­tet die In­fra­struk­tur, um die Be­völ­ke­rung in
Man­gel­ver­sor­gung und Hun­ger zu zwin­gen. Ein Staat, der seine Be­völ­ke­rung
nicht mit dem Not­wen­digs­ten ver­sor­gen kann, ver­liert seine
Exis­tenz­be­rech­ti­gung. So funk­tio­niert das heute wie eh und je in den
Kriegs­ge­bie­ten der Welt.

Hun­ger ist nicht unser Pro­blem. Nah­rungs­mit­tel ver­fol­gen uns auf Schritt und
Tritt. Wohin wir auch gehen, die Spei­sen sind schon da. Keine Ecke, um die wir
kom­men, ohne auf neue Le­cke­rei­en zu sto­ßen. Ihrem An­blick kön­nen wir uns
nicht ent­zie­hen. Wer­be­ta­feln übe­rbi­eten sich, Dinge an­zu­prei­sen, die wir gar
nicht essen wol­len. Der Weg in den Su­per­markt füh­rt am Grill­wa­gen vor­bei.
Hähn­chen­duft ver­folgt uns über den Park­platz, auf dem der Piz­za­fah­rer an uns
vor­bei­ra­delt. Neben Ein­kaufs­kör­ben lau­ert der Fri­ka­del­len Stand. Nicht mehr
lange und neben den Weih­nachts­sa­chen tau­chen erste Ber­li­ner auf. Ge­fül­lt mit
Mar­me­la­den und Ei­er­li­kör.

Die Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gie lehrt, daß der Mensch fru­̈her für jede Mahl­zeit 25 km am
Tag lau­fen muss­te.

Heute lau­fen wir al­len­falls an der Nah­rung vor­bei, manch­mal auch vor ihr
davon. „Nimm mich!“, schreit der Scho­ko­rie­gel. „Ess mich!“, ruft das
But­ter­crois­sant. Nah­rung stellt sich uns in den Weg. „Nur eine klei­ne Kugel.“,
wis­pert es aus der Eis­tru­he. „Ich bin doch so le­cker.“, mault die Bock­wurst aus
dem Bol­ler­wa­gen. „Hier bin ich!“, kü­ndet das Na­cken­steak vom Schwenk­grill.
Nah­rung läuft uns hin­ter­her. „Ich bin so crun­chig.“, knus­pert´s aus der Tüte mit
den Wa­ren­pro­ben. „In fün­fzehn Mi­nu­ten bin ich bei dir.“, ver­spricht die Vier-
Jah­res­zei­ten aus dem Piz­za­ser­vice.

Nah­rung zer­stört un­se­re Zähne, lässt un­se­ren Leib an­schwel­len. Sie lähmt
un­se­ren Schritt, nimmt uns die Atem­luft beim Trep­pen­stei­gen. Sie raubt uns den
Schlaf, wenn wir nach dem Grü­nkoh­l­abe­nd mit Völ­le­ge­fühl im Bett lie­gen.
Lau­fen mü­ssen wir al­len­falls bis zur nächs­ten Nacht­tank­stel­le, wenn uns
mor­gens um zwei der Hei­ßhun­ger nach Scho­ko­la­de packt.

Und ir­gend­wann, wäh­rend ich die­sen Text schrieb, dach­te ich: Guck doch mal in
dei­nen ei­ge­nen Küh­lschrank. Und hab meine Kä­se­vor­rä­te ge­sta­pelt.
Le­er­dam­mer Kä­se­scheib­chen mit Ba­si­li­kum und To­ma­te.

Dann der „echte Fran­zo­se“ – mild und cremig, Grü­nlä­nder Schnitt­lauch. Der
Käse mit der gru­̈nen Seele. Ohne Gen­tech­nik – das gilt für das Fut­ter der Kühe
eben­so wie für alle Zu­ta­ten. Schnitt­kä­se 48 Pro­zent Fett in der Tro­cken­mas­se.
Noch­mal Le­er­dam­mer. Dies­mal ori­gi­nal ver­eint mit der an­ge­neh­men Schär­fe
von schwar­zem Pfef­fer und einem Hauch Chili. Grü­nlä­nder – mild und nus­sig.
Un­fair wäre es, den Frü­hling­sk­äse mit den fei­nen Frü­hling­skrä­utern zu
ver­ges­sen. Lak­to­se­frei, ohne Zu­satz von Kon­ser­vie­rungs­stof­fen, hoher Cal­ci­um­und
Pro­te­in­ge­halt. Meine Schin­ken- und Wurst­vor­rä­te ver­schwei­ge ich.

Und dann die Eier. Seit 6 Tagen ab­ge­lau­fen. Ich mache mir keine Il­lu­sio­nen
über ihr Schick­sal. Ich trau mich nicht, sie noch zu essen.

Auf­räu­men nach dem Grill­abend för­dert sel­ten den Ap­pe­tit, wäh­rend wir mit
Ketch­up ver­schmier­te Pap­pen in die blau­en Säcke stop­fen.

Alles, was wir in die Um­welt ent­las­sen, kommt über die Nah­rungs­ket­te zu uns
zu­rück. Sei es nun Plas­tik, im Meer zu Par­ti­keln zer­rie­ben oder ra­dio­ak­ti­ve
Teil­chen aus Fu­ku­shi­ma. Die Natur ist eben­so grün­dlich wie ge­dul­dig. Sie lässt
sich Zeit, bis sie uns die Rech­nung auf dem Tel­ler ser­viert.

Mi­kro­plas­tik­ku­̈ge­lchen – zur ef­fek­ti­ve­ren Rei­ni­gung in un­se­re Dusch­gels und
Zahn­pas­ta ge­mischt – fin­den den Weg in unser Trink­was­ser und un­se­ren Honig.
Ex­zes­siv und ma­ßlos frö­nen wir der Lei­den­schaft des Es­sens. Erst herb, dann
süß.

Wir leben nicht in der ers­ten Über­fluss­ge­sell­schaft der Welt­ge­schich­te. Schon
die alten Römer ta­fel­ten bis sie sich mit der Feder am Gau­men kit­zel­ten. Um
sich an­schlie­ßend er­neut den Bauch voll zu schla­gen.

Ma­chen wir uns also nichts vor. Die ein­zi­ge Kon­stan­te im Lauf der Welt ist der
Wan­del. Schon der Pha­rao lern­te: Auf die sie­ben fet­ten Jahre fol­gen sie­ben
ma­ge­re. Ver­trau­en wir also nicht dar­auf, daß wir ewig so wei­ter­le­ben, wie wir es
jetzt kön­nen.

Anita Schwie­ger kon­fron­tiert uns ge­ra­de­wegs mit un­se­ren Le­bens­mit­teln,
Träu­men und Alp­träu­men, die sie uns be­sche­ren. Ihre Tisch­de­cke wird zur
Zwangs­ja­cke, das Toast­brot zum Trost­brot. Mor­ta­del­la dient als Mo­bi­le, aus
dem die Wurst­ge­sich­ter star­ren. Papp­tel­ler kom­men als Pan­zer aus der Wand.
Die Scho­ko­la­den­ta­fel hin­ter­lässt das leer ge­fres­se­ne Pa­pier. Um zehn nach
zwölf ist der Tel­ler leer.

Ihre Bil­der sind manch­mal fremd, manch­mal nied­lich, manch­mal ab­sto­ßend.
Ihre Di­rekt­heit immer ver­stö­rend. La­kritz­schnu­̈re, die wir zu­meist acht­los
ver­na­schen, wer­den zum Gal­gen­strick, der sich ge­nau­so gut aus
Scho­ko­la­den­mas­se gie­ßen lässt. Ihr rohes Hüh­nchen wird nie ge­kocht, ihr
Speck­man­tel nie ge­bra­ten.

Ge­nie­ßen wir also diese Aus­stel­lung.

Ich will nie­man­dem den Ap­pe­tit ver­der­ben, nie­man­dem ein schlech­tes Ge­wis­sen
ma­chen, doch wäre es schön, wenn der eine oder an­de­re, manch­mal,
ge­le­gent­lich, viel­leicht im Stil­len, ein wenig Dank­bar­keit emp­fin­det, ein wenig
Demut, daß Zeit und Ort un­se­res Le­bens uns das Pri­vi­leg ver­lei­hen, uns über
Über­fluss und Über­druss Ge­dan­ken zu ma­chen – statt zu hun­gern.